Wie aus Tabelle 1 hervorgeht, besaß die DDR, selbst nach den offiziellen Statistiken, Mitte der 80er Jahre eine deutlich geringere Produktivität als ihre westlichen Handelspartner. Andererseits stellte ihre Wirtschaft die produktivste aller RGW-Länder dar, lediglich die Tschechoslowakei besaß vergleichbare Werte.
Bruttosozialprodukt in Mrd. US-$ |
Erwerbstätige in 1000 |
Bruttosozialprodukt je Erwerbstätigen | ||
in 1000 US-$ | in v.H. der DDR | |||
DDR | 146,0 | 9637 | 15,1 | 100,0 |
CSSR | 115,4 | 7748 | 14,9 | 98,3 |
UdSSR | 1747,7 | 139117 | 12,6 | 82,9 |
Ungarn | 61,3 | 4877 | 12,6 | 82,9 |
Bulgarien | 46,1 | 4658 | 9,9 | 65,4 |
Polen | 182,7 | 19229 | 9,5 | 62,7 |
Rumänien | 97,0 | 10588 | 9,2 | 60,5 |
Frankreich | 547,2 | 20915 | 26,2 | 172,7 |
Niederlande | 131,7 | 5076 | 25,9 | 171,3 |
BRD | 653,3 | 26489 | 24,7 | 162,8 |
Schweiz | 68,7 | 3171 | 21.7 | 143,1 |
Österreich | 67,5 | 3235 | 20,9 | 137,7 |
Italien | 424,2 | 20508 | 20,7 | 136,5 |
Großbritannien | 489,9 | 24292 | 20,2 | 133,2 |
Schweden | 82,7 | 4244 | 19,5 | 128,6 |
Betrachtet man Tabelle 2, stellt man fest, daß die Entwicklung der Produktivität der DDR-Wirtschaft angeblich in sieben von neun Wirtschaftszweigen in den 80er Jahren stärker anstieg als in der BRD. Insbesondere im Bereich "Elektrotechnik, Feinmechanik und Optik" erhöhte sie sich mit 8% im Jahr scheinbar doppelt so schnell wie in der Bundesrepublik. Andererseits verlief die Produktivitätsentwicklung im Bereich "Metallgewinnung und -erzeugung", dem neben "Nahrungs- und Genußmittelgewerbe" einzigen Segment, in dem die DDR im Vergleich schlechter abschnitt, nur mit einem Drittel der Geschwindigkeit im Vergleich zum westlichen Teil Deutschlands. Insgesamt schien die DDR-Wirtschaft jedoch in den 80er Jahren gegenüber der Bundesrepublik ihre Konkurrenzfähigkeit verbessert zu haben.
Bundesrepublik Deutschland | Deutsche Demokratische Republik | DDR in vH der Bundesrepublik Deutschland | ||||||
Produktivität in DM | jährliche Durch- schnittliche Veränderung in vH |
Produktivität in Mark der DDR |
jährliche Durch- schnittliche Veränderung in vH | |||||
1980 | 1988 | 1980 | 1988 | 1980 | 1988 | |||
Chemie, Mineralöl, Kunststoff, Gummi | 227000 | 252000 | 1,3 | 145000 | 179000 | 2,7 | 64 | 71 |
Metallgewinnung und -erzeugung | 182000 | 256000 | 4,4 | 194000 | 219000 | 1,5 | 107 | 86 |
Steine und Erden | 147000 | 165000 | 1,5 | 63000 | 74000 | 2,0 | 43 | 45 |
Stahl-, Maschinen-, Fahrzeugbau | 118000 | 137000 | 1,9 | 69000 | 97000 | 4,3 | 58 | 71 |
Elektrotechnik, Feinmechanik, Optik | 102000 | 139000 | 3,9 | 63000 | 117000 | 8,0 | 62 | 84 |
Textilgewerbe | 103000 | 132000 | 3,1 | 78000 | 102000 | 3,4 | 76 | 77 |
Leichtindustrie | 109000 | 137000 | 2,9 | 62000 | 80000 | 3,2 | 57 | 58 |
Nahrungs- und Genußmittelgewerbe | 280000 | 338000 | 2,4 | 165000 | 189000 | 1,7 | 59 | 56 |
Verarbeitendes Gewerbe 1) | 141000 | 171000 | 2.4 | 91000 | 121000 | 3,6 | 65 | 71 |
1) Einschließlich Teilen des Bergbaus. |
Allgemein bekannt war zum Zeitpunkt, als die zu analysierenden Zeitungsartikel verfaßt wurden, daß die DDR Anfang der 80er Jahre zeitweise im Sog der Zahlungsunfähigkeit Polens und Rumänien ihre Kreditwürdigkeit verloren hatte. (Haendcke-Hoppe-Arndt 1996: 58) Insofern ist es von enormer Bedeutung, zu welchen Schlußfolgerungen man in bundesdeutschen Redaktionsräumen hinsichtlich des Außenhandels der DDR bei Studium des zugänglichen Materials kommen konnte. Wäre es möglich gewesen zu erkennen, daß die DDR am Ende der 80er Jahre kurz vor der Zahlungsunfähigkeit gestanden hat?
Tabelle 3 zeigt, daß westliche Industrienationen hinsichtlich des Außenhandels eine ähnlich große Rolle für die DDR spielten, wie die RGW-Staaten.(8) Seit 1987 erzielte die DDR keinen Exportüberschuß im Handel mit westlichen Staaten mehr. Es stellt sich nun die Frage, ob dies aus damaliger Sicht zwangsläufig als problematisch einzuordnen war. Die DDR besaß seit den 70er Jahren ein Exportdefizit und nur zwischen 1982 und 1986 überstieg der Export den Import. Ohne weitere Kenntnisse konnte man die Situation Ende der 80er Jahre also wahlweise als eine bedenkliche Exportschwäche oder normale Schwankung deuten. Bei einer angenommenen Nettogesamtverschuldung der DDR von 10 Milliarden US-Dollar war die Situation in jedem Fall nicht zwingend als dramatisch anzusehen. (Haendcke-Hoppe-Arndt 1995: 121 & 1996: 61)
Umsatz 2) | Export | Import | Umsatz | Export | Import | |
Mrd. Mark Valutagegenwert | in vH | |||||
Sozialistische Länder | 128,8 | 64,8 | 64,0 | 46,5 | 47,9 | 45,2 |
RGW-Länder 1) | 116,4 | 59,2 | 57,2 | 42,0 | 43,8 | 40,4 |
Nichtsozialistische Länder | 148,2 | 70,5 | 77,7 | 53,5 | 52,1 | 54,8 |
1) Ohne Albanien, Vietnam, Kuba und Mongolei. 2) Summe aus Exporten und Importen. |
Neben der Frage, ob die DDR in der Lage war, durch Exporte notwendige Devisen zu erwirtschaften ist relevant, ob ihre Wirtschaft international konkurrenzfähig erschien, oder DDR-Produkte nur zu Dumpingpreisen abgesetzt werden konnten. Im großen und ganzen stellte sich die Situation der DDR im RGW-Handel mit politisch festgelegten Preisen durchaus positiv dar. Insgesamt wurde bezogen auf eine produzierte Mark nach den Statistiken ein Stückerlös von 0,27 Mark erzielt, wobei die Gewinnschöpfung zwischen einzelnen Industriezweigen stark variierte. (Görzig & Gornig 1991: 81). Unter Weltmarktbedingungen schien die DDR-Industrie bei einem um etwa ein Fünftel geringeren Stückerlös von 0,20 Mark bei Exporten ins westliche Ausland ebenfalls insgesamt konkurrenzfähig. Dabei konnte allerdings nur bei knapp 60 Prozent der Geschäfte tatsächlich ein Gewinn erwirtschaftet werden. Manche Produkte mußten subventioniert werden, um sie überhaupt absetzen zu können. (Görzig & Gornig 1991: 84).
2.2. Indizien für den bevorstehenden Kollaps
2.2.1. Offenkundige strukturelle Defizite der DDR-Wirtschaft
"Die Zahlungsbilanzsituation der DDR konnte bis nach der Wende vor aller Welt, Gorbatschow und Modrow eingeschlossen, geheimgehalten werden. Es war das bestgehütete Staatsgeheimnis der DDR." (Haendcke-Hoppe-Arndt 1996: 55) Der letzte Beleg für den bevorstehenden Kollaps der DDR-Wirtschaft war in bundesdeutschen Redaktionen also nicht bekannt. An dieser Stelle soll verdeutlicht werden, daß erhebliche Defizite dennoch offenkundig sein mußten.
Die Ära Honecker von 1971 bis 1989 war von der sogenannten "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" geprägt. Der wirtschaftspolitisch reformsozialistische Ansatz des "Neuen Ökonomischen Systems" Ulbrichts bis 1970, bei dem als primäres Ziel der Aufbau einer effizienten Industrie mit marktwirtschaftlichen Elementen angestrebt wurde, fand damit sein Ende. Verschlissene Betriebsmittel wurden zunehmend weitergenutzt, bei Neuinvestitionen nicht länger Wert auf geringen Materialverbrauch gelegt. Dieser war im Durchschnitt sogar höher als bei den Altanlagen. (Schwarz 1995: 133 ff.) Die Ursache für die Anschaffung uneffektiver Maschinen lag in den zentralen planwirtschaftlichen Investitionsentscheidungen in der Honecker-Mittag-Ära. Allein die nicht mehr zu verarbeitende Informationsflut verhinderte eine schnelle und effektive Nutzung von Innovationen und flexible Reaktionen auf veränderte Rahmenbedingungen durch die Planungsstellen. (Fritze 1993: 11, 131) Außerdem fehlte es durch die "Überlebensgarantie" für die Kombinate an Anreizen, die Umsetzung vorhandener Innovationspotentiale voranzutreiben. (Flassbeck & Scheremet 1992: 279f.) Gleichzeitig band der bürokratische Apparat Arbeitskräfte, die an anderer Stelle fehlten. Obwohl die DDR als Industriegesellschaft einzustufen war, arbeitete dort ein geringerer Anteil der Erwerbstätigen direkt in der Fertigung als in der Bundesrepublik, die zu diesem Zeitpunkt bereits die Schwelle zur Dienstleistungsgesellschaft überschritten hatte (Geißler 1992: 117; Görzig & Gornig 1991: 43). Nicht zu unterschätzen sind auch die Ressourcen, die das Ministerium für Staatssicherheit und die Nationale Volksarmee verschlangen. Der Sicherheitsapparat hatte Ende der 80er Jahre, gemessen am Wirtschaftspotential, riesige Ausmaße angenommen. (Gutmann & Buck 1996: 14; Krakat 1996: 166; Süß 1996a: 115)
Nach Schenk war die Unbrauchbarkeit der zentralistischen Planung und der resultierende desolate Zustand der DDR-Wirtschaft allgemein bekannt. Westliche Reporter beklagten andererseits, daß durch Zensur die Vermittlung eines realistischen Bildes nicht möglich war. (Schenk 1992: 155) Selbst wenn man diesen Einwand für einige Defizite gelten läßt, blieben eine Reihe von Fakten, die aufgrund ihres schieren Ausmaßes oder ihrer offenkundigen Gültigkeit nicht verborgen bleiben konnten. Im folgenden wird anhand der von der SED stark geförderten Bereiche Wohnungsbau, Energieversorgung und Mikroelektronik gezeigt, daß der fortschreitende wirtschaftliche Ruin der DDR eigentlich unübersehbar war.
2.2.2. konkrete Beispiele
2.2.2.1. Das Wohnungsbauprogramm
In der Ära Honecker wurde der Industriebau zugunsten des Wohnungs- und Gesellschaftsbaus vernachlässigt. Letzterer manifestierte sich in Repräsentationsbauten, Sicherheitsbauten und in Form von Denkmälern. Hervorstechende Bauten sind beispielsweise die Zentrale der Staatssicherheit in Berlin-Lichtenberg und die wiederhergestellte Semperoper in Dresden. Ost-Berlin wurde dabei insgesamt zu Ungunsten der Provinz die höchste Aufmerksamkeit zuteil. (Buck 1996a: 81; Schwarz 1995: 133 f.)
Beim Wohnungsbau setzte die SED auf Neubauten in Plattenbauweise. Von 1971 bis 1989 wurden ca. zwei Millionen Wohnungen in diesem Stil fertiggestellt. Altbauten und deren Einrichtungen fanden dagegen fast keine Beachtung. Wenn überhaupt wurden diese in der Regel von Mietern oder Eigentümern selbst instand gesetzt. Als Folge konnte die DDR den Anteil der verschlissenen Wohnungen, der bei insgesamt gut 40 Prozent verharrte, nicht senken. Bei den installierten technischen Einrichtungen verschlechterte sich die Situation sogar: Waren 1975 nur ein Drittel davon abgenutzt, besaßen 1989 fast die Hälfte nur noch Schrottwert. Ein Teil der Bevölkerung lebte also in hoffnungslos veralteten Gebäuden: Ende 1989 besaßen 5,9 Millionen Wohnungen kein Telefon, 3,7 Millionen kein modernes Heizsystem, 1,3 Millionen weder Bad noch Dusche und 1,7 Millionen nicht einmal eine Innentoilette. Was für Altbauwohnungen zutraf, galt in gleicher Weise für öffentlich genutzte Gebäude, die einmal errichtet, keinen grundlegenden Überholungen mehr unterzogen wurden. Krankenhäuser, Bibliotheken, Kinos und Kulturhäuser hatten zu über 50 Prozent die vertretbare Nutzungsdauer der Bausubstanz und der Einrichtungen überschritten. Der Zustand wirtschaftlich genutzter Gebäude war ebenso schlecht. Insgesamt war das Wohnungsbauprogramm Ende der 80er Jahre faktisch gescheitert. Am Jahresende 1989 lagen 781.000 als berechtigt anerkannte Anträge auf Wohnraumzuteilung vor, die nicht erfüllt werden konnten. (Buck 1996a: 75 ff.; Lehmann 1996: 347; Schwarz 1995: 134) Der Verfall der Bausubstanz von Alt- und Industriebauten in der DDR war also offenkundig, die Wohnungsnot zumindest zu erahnen gewesen.
Auch ohne konkrete Daten hätten westlichen Autoren eigentlich auch auf die negativen Wirkungen für den Staatshaushalt schließen können. Tatsächlich stiegen die Ausgaben für Wohnungsbau und Wohnungswirtschaft von ca. 3,5 Milliarden Mark in Jahr 1971 auf rund 16 Milliarden Mark im Jahr 1988 an. Da die Wohnblocks am Stadtrand errichtet wurden, mußten Strom-, Fernwärme- und Wasserleitungen, sowie das öffentliche Verkehrsnetz entsprechend erweitert werden. Weil weder die Mieten, noch die Preise für Energie, Wasser und Nahverkehrsmittelnutzung die tatsächlichen Kosten deckten, kam es seit Anfang der 80er Jahre folglich zu einem "Finanzierungsdesaster". (Buck 1996a: 81, 88 f.; Gutmann & Buck 1996: 14; Zwahr 1993: 16)
2.2.2.2. Energieversorgung
Die Subventionierung der privaten Energieversorgung leitet um zu der Frage, wie und mit welchen Folgen Energie in der DDR überhaupt erzeugt wurde.
Hauptprimärenergieträger der DDR war heimische Braunkohle, die durchweg mehr als zwei Drittel des Bedarfs der DDR gedeckt hat. Ein im Nachhinein denkwürdiges Intermezzo stellte die forcierte Nutzung sowjetischen Erdöls in den 60er und 70er Jahren dar. Neben der Nutzung zur Stromerzeugung wurde das Öl in neu errichteten Kombinaten veredelt. Zeitversetzt zum Ölpreisschock auf dem Weltmarkt setzte auch die UdSSR höhere Preise bzw. Gegenleistungen innerhalb des RGW durch. Die DDR war daher gezwungen, massiv hochwertige Güter an die Sowjetunion zu liefern, und sich außerdem an Erschließungskosten in Sibirien zu beteiligen. Schließlich verminderte die Sowjetunion Anfang der 80er Jahre ihre Lieferungen um 10 Prozent, um Öl in den Westen zu exportieren. Die DDR konnte den Lieferungsausfall nicht durch Importe aus anderen Quellen ausgleichen. Sie war im Gegenteil selber auf Devisen zum Einkauf von westlichen Investitionsgütern und zur Tilgung von Krediten angewiesen. In dieser Situation wurden durch massive Investitionen in Höhe von 15 Milliarden Mark sechs Millionen Tonnen Ölprodukte aus dem DDR-Binnenmarkt herausgelöst. Der verbleibende Überschuß wurde in den Westen exportiert. Aufgrund der wieder sinkenden Weltmarktpreise bei im Vergleich nun überhöhten Einfuhrkosten aus der Sowjetunion entwickelte sich dieser Transfer seit Mitte der 80er Jahre zu einem volkswirtschaftlichen Verlustgeschäft, das aufgrund der Devisenknappheit aber dennoch aufrechterhalten wurde. (Friedrich-Ebert-Stiftung 1988: 10 ff.; Fritze 1993: 13; Görzig & Gornig 1991: 84; Haendcke-Hoppe-Arndt 1995: 124 & 1996: 56 ff.; Krakat 1996: 139).
Zumindest die massive Kehrtwende in der Energiepolitik nach der Verteuerung sowjetischen Erdöls, sowie zurückgehende Exporterlöse der DDR für Erdölprodukten bei wieder fallenden Weltmarktpreisen waren bekannt.(10) Gleiches galt für die Folgen der wieder verstärkten Verwendung von Braunkohle:
Mit rund 300 Millionen Tonnen pro Jahr, was ¼ der weltweiten Fördermenge ausmachte, war die DDR Ende der 1980er Jahre der größte Braunkohleproduzent der Welt. Dabei konnten bis 1986 die Fördermengen von Rohbraunkohle auf einen historischen Höchststand von 311 Millionen Tonnen gesteigert werden, die Braunkohlebrikettproduktion als Substitut für Öl zur Wärmeerzeugung verharrte jedoch mit 50 Millionen Tonnen 20 Prozent unter dem Stand der frühen 60er Jahre. Entweder ließen sich die Kapazitäten von Anlagen zur Veredelung von Braunkohle wie das Kombinat "Schwarze Pumpe", aufgrund vernachlässigter Investitionen in den vorausgegangenen Jahrzehnten nicht ohne weiteres steigern, oder die zusätzlichen Braunkohle-Fördermengen genügten lediglich für einen Ausbau der direkten Energieerzeugung. (Friedrich-Ebert-Stiftung 1988: 10 ff.) In jedem Fall lagen neu erschlossene Flöze in tieferen Erdschichten, waren kleiner und enthielten einen höheren Mineraliengehalt. Die Förderung wurde also zunehmend unrentabler und Feuerungsanlagen in den Kraftwerken verschlissen aufgrund der zurückgehenden Qualität schneller. Dabei war die Verwendung der Kohle alles andere als effektiv: Im Winter mußte sie in beheizten Waggons zu den Kraftwerken transportiert oder später wieder aufgetaut werden - notfalls mit Hilfe ausgedienter Flugzeugstrahltriebwerke. (Friedrich-Ebert-Stiftung 1988: 33 ff.)
Kann auch bei den eben genannten Zuständen wieder eingewendet werden, daß sie nur entsprechenden Experten, aber nicht zwingend in den Redaktionen der Zeitungen bekannt sein mußten, galt dies in keinem Fall für die Umweltschäden, welche die Nutzung der Braunkohle nach sich zog: Der Tagebau hinterließ "Mondlandschaften", die Verfeuerung der Kohle führte zu riesigen Aschehalden, sowie einem Ausstoß von vier bis 5,6(11) Millionen Tonnen Schwefeldioxyd pro Jahr, was ca. 300 Kilogramm pro Kopf der Bevölkerung entsprach. Die Folge war ein Waldsterben katastrophalen Ausmaßes. Da kurz- bis mittelfristig nicht genügend Kapital für Rauchgasentschwefelungsanlagen vorhanden war, verfuhr man nach der Politik der hohen Schornsteine, und mischte in kleineren Kraftwerken bei der Verbrennung Kalkstein zu, was natürlich nur in sehr geringem Maße zu Verbesserungen führte. (Buck 1996b: 225; Friedrich-Ebert-Stiftung 1988: 32 ff. Fritze 1993: 14)
Für die Menschen in der DDR bedeutete die Energiepolitik der SED-Diktatur, daß ca. ein Drittel von ihnen nahezu permanent gezwungen war, gesundheitsgefährdende Konzentrationen von Schadstoffen in der Luft hinzunehmen. (Buck 1996b: 225; Wolle 1998: 211) In den Bezirken Halle, Leipzig, Karl-Marx-Stadt und Cottbus als Zentren der Braunkohlewirtschaft und industriellen Ballungsgebieten, litten entsprechend weit mehr Menschen ständig an Asthma, Bronchitis und Herz-Kreislauf-Erkrankungen als in weniger belasteten Gebieten. Fast jedes dritte Kind war in diesen Gebieten durch endogene Ekzeme befallen. (Buck 1996b: 226)
Eine Lösung der Probleme, welche die Braunkohlenutzung mit sich brachte, war nicht absehbar. Die Nutzung der Kernenergie konnte nicht forciert werden, weil die Sowjetunion nicht im gewünschten Umfang in der Lage war, Kraftwerke zu liefern und Atommüll abzunehmen. Als Folge betrug der Anteil der Kernenergie an der Gesamtstromerzeugung nie mehr als 12 Prozent, und ging Mitte der 80er Jahre sogar zurück. (Friedrich-Ebert-Stiftung 1988: 37 ff.) Die vorhandenen Möglichkeiten der Wasserkraftnutzung waren bereits nahezu vollständig ausgeschöpft. Für den Ausbau wegweisender Pilotprojekte, wie beispielsweise der Nutzung von Erdwärme, fehlte es an Investitionskapital. (Friedrich-Ebert-Stiftung 1988: 51 ff.) Versuche im industriellen Bereich Energie einzusparen, scheiterten nach anfänglichen Erfolgen an der unveränderten "Wachstumsideologie" der Kombinatsführungen, sowie an der Knappheit von Investitionskapital für sparsamere Maschinen. Vorschriften, nach denen Wohn- und Arbeitsräume auf maximal 19-21 Grad beheizt werden durften, griffen schon durch nicht vorhandene Regeltechnik für Heizanlagen ins Leere. Zuletzt verhinderte die seit 1948 konstanten Energiepreisen für private Nutzung ein Umdenken in der Bevölkerung. Entsprechend verharrte die DDR auf einem extrem hohen Pro-Kopf-Verbrauch an Primärenergie von über sechs Tonnen Steinkohleeinheiten pro Jahr (Friedrich-Ebert-Stiftung 1988: 53ff.; Fritze 1993: 13).
2.2.2.3. Mikroelektronik
Im Rahmen des "Neuen Ökonomischen Systems" Ulbrichts hatte die Erforschung und Nutzung von Rechentechnik und Datenverarbeitung hohe Priorität, weil nur mit deren Hilfe die Wirtschaftsreform möglich erschien. Aufgrund des Machtwechsels und der damit einhergehenden neuen "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" beschloß die SED auf ihrem VIII. Parteitag im Juni 1971 die drastische Senkung der Investitionen in diesem Bereich. Als der Beschluß auf der 6. Tagung des ZK der SED im Juni 1977 schließlich korrigiert wurde, betrug der Rückstand der DDR bei der Mikroelektronik zu den führenden Industrienationen je nach Bereich bereits zwischen vier und neun Jahren. Auch massivste Aufwendungen konnten daran in der Folgezeit nichts mehr ändern. Die potentielle Chance dazu wurde vertan, weil Umstrukturierungen im Rahmen des zentralistischen Umbaus zu Tempoverlusten bei den Entwicklungsvorhaben führten. Schwerwiegender war jedoch, daß die Entwicklung von Mikrochips in erster Linie in Form von "Nacherfindungen" vor sich ging. Dazu wurden auf teilweise abenteuerliche Weise Muster aus dem westlichen Ausland unter Umgehung der dortigen Embargobestimmungen beschafft. Diese Muster wurden analysiert und entsprechend der gegebenen Anlagen modifiziert, um sie selbst in Serie herstellen zu können. Ab einem bestimmten Entwicklungsgrad brachte die "Nacherfindung" jedoch einen höheren Aufwand mit sich, als es Eigenentwicklungen von Schaltkreisen getan hätten. Zu solchen wäre die Mikroelektronik-Industrie der DDR personell und technisch eigentlich in der Lage gewesen. An dieser Stelle sei eine kleine Anekdote gestattet: Die Firma "Digital Corporation" ätzte folgenden Tip für sozialistische Wissenschaftler in kyrillischer Schrift auf die eigenen Produkte: "Wann hört ihr endlich auf zu klauen, eigene Entwürfe sind besser." Da dieser "Hinweis" keine Beachtung fand, hinkte die Entwicklung von "eigenen" Produkten derer im Westen ohne Hoffnung auf Verbesserung hinterher. (Barkleit 1997: 19 ff.; Krakat 1996: 155 ff.)
Der Versuch, durch "heimliche Lizenzen" japanischer Firmen in Zeiten des Handelskrieges zwischen Japan und den USA Boden gut zu machen, verschärfte die Situation sogar noch: Der DDR gelang es zwar, am westlichen Embargo vorbei vollständig dokumentierte aktuelle Chips z.B. der Firma Toshiba zu erwerben, in diese waren jedoch Modifikationen eingebaut, die Rückschlüsse auf den eigentlichen Entwickler des Schaltkreises verhindern sollten. Aufgrund dieser Modifikationen kam es zu unerwarteten Komplikationen bei der Massenfertigung und die Ausschußquote nahm enorme Ausmaße an. Da die japanischen Firmen nach Beilegung des Handelskrieges mit den USA ihre Unterstützung einstellten, konnten diese Probleme nicht mehr gelöst werden. Außerdem kam die Sowjetunion ihren Lieferverpflichtungen auch in diesem Industriesektor immer weniger nach, was die Inbetriebnahme weiterer Halbleiter-Produktionsstätten in der DDR gefährdete. Die hohe Ausschußquote konnte also auch nicht durch eine gesteigerte Gesamtproduktion kompensiert werden. (Barkleit 1997: 20 ff.; Krakat 1996: 145, 161 ff.)
Als die SED Ende der 70er Jahre die verstärkte Förderung der Mikroelektronik beschlossen hatte, erhoffte sie sich, durch Export hochwertiger Güter mit entsprechender Technologie zukünftig alle Devisenprobleme lösen zu können. Statt dessen mußten seit Mitte der 80er Jahre selbst eigene Betriebe und Forschungseinrichtungen aufgrund mangelnder Verfügbarkeit und Qualität der DDR-Produkte mit Rechnern aus westlicher Produktion versorgt werden. (Barkleit 1997: 19 ff.)
Inwieweit die "Nacherfindungs-Praxis" der DDR den Autoren der Zeitungsartikel zu einem frühen Zeitpunkt bekannt war, kann hier nicht geklärt werden. In jedem Fall war der Rückstand der DDR im Bereich der Mikroelektronik unübersehbar.
2.3. Der tatsächliche Bankrott der DDR
An dieser Stelle soll dargestellt werden, daß die DDR unter dem Gesichtspunkt ihrer nicht bekannten tatsächlichen Auslandsverschuldung 1989 unmittelbar vor dem Staatsbankrott und dem Zusammenbruch ihres Wirtschaftssystems stand.
Die tatsächliche Zahlungsbilanz war anfangs nicht einmal den Nachfolgern Erich Honeckers bekannt. So beauftragte Egon Krenz am 24. Oktober 1989 den Chef der staatlichen Planungskommission Gerhard Schürer mit einer ungeschminkten Analyse der ökonomischen Lage der DDR. Bis Mitte November 1989 stellte sich heraus, daß die DDR nicht wie allgemein angenommen mit 10 Milliarden, sondern mit etwa 20 Milliarden US-Dollar im Westen verschuldet war. Die Diskrepanz ergab sich daraus, daß die angenommenen Devisenguthaben der DDR primär aus Geldern bestanden, auf die sie entweder keinen Zugriff hatte, oder die selbst noch nicht genutzte Auslandskredite darstellten. Die neuen Zahlen wurden der Öffentlichkeit aus triftigen Gründen so lange wie möglich vorenthalten: Sie offenbarten die spätestens 1991/92 anstehende Zahlungsunfähigkeit der DDR. Theoretisch hätte eine Senkung des Lebensstandards der Bevölkerung um 25 bis 30 Prozent eine weitere Neuverschuldung stoppen können. Ein solches Vorgehen war aber aus zwei Gründen nicht möglich: Zum einen hätte es die DDR unregierbar gemacht, zum anderen waren nicht genügend Güter vorhanden, die auf dem Weltmarkt überhaupt absetzbar gewesen wären. (Haendcke-Hoppe-Arndt 1995: 120 f.; Krakat 1996: 167; Wolle 1998: 202)
Die wichtigsten Ursachen für den bevorstehenden Bankrott wurden zum Teil oben bereits angesprochen. Honeckers "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik", wurde seit Anfang der 70er Jahre durch westliche Kredite finanziert. Die entstandenen Schulden konnten nicht wie vorgesehen, mit Hilfe gleichzeitig erworbener technologieintensiver Produkte durch eine Exportoffensive wieder zurückgezahlt werden. Dank hoher Weltmarktpreise für Erdöl gelang es der DDR lediglich, ihre Auslandsverschuldung bis 1985 durch "Export um jeden Preis" auf gleichem Niveau bei ca. 28 Milliarden D-Mark zu halten. Nachdem die Preise für Erdöl zurückgingen und der technologische Rückstand höherwertiger Exportprodukte eher größer wurde als abnahm, stieg die Verschuldung weiter an. Für die qualitativ minderwertigen Produkte wurden bei außerdem mangelhaften Serviceleistungen und unprofessioneller Vermarktung immer geringere Erlöse erzielt. Die Hochzinsphase, die Ende der 70er Jahre einsetzte, machte der DDR noch zusätzlich zu schaffen. (Fritze 1993: 11 f.; Gutmann & Buck 1996: 13; Haendcke-Hoppe-Arndt 1995: 121 f. & 1996: 58 )
Die DDR stand 1989 aber nicht nur kurz vor der Zahlungsunfähigkeit, sondern in vielen Bereichen drohte die gesamte Produktion zusammenzubrechen. Dies war Folge einer verfehlten Investitionspolitik, die ebenfalls auf Honeckers "Einheit von Wirtschaft und Sozialpolitik" zurück ging. Die Investitionsquote sank seit den 70er Jahren und erreichte 1982 einen Tiefststand von 21,6 Prozent des Nationaleinkommens. Eine Absenkung auf diesen Wert war notwendig geworden, um die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern aufrecht zu erhalten, ohne die Auslandsverschuldung zu erhöhen. (Fritze 1993: 12) Gleichzeitig verkaufte die DDR durch den Export "um jeden Preis" relativ hochwertige Investitions-güter, die sie eigentlich selber dringend benötigt hätte. (Gutmann & Buck 1986: 12 ff.) Die verbleibenden knappen Mittel kamen in erster Linie wenigen ausgesuchten Wirtschaftsbereichen und dem Sicherheitsapparat zugute. Allein der oben angesprochene Bereich Energieversorgung verschlang zwischen einem Viertel und einem Drittel aller industrieller Investitionen. In den nicht geförderten Industriesektoren fehlte es hingegen an Investitionskapital. (Friedrich- Ebert-Stiftung 1988: 34; Gutmann & Buck 1996: 8).
Folge der niedrigen Investitionsquote in nicht geförderten Industriezweigen war ein hoffnungsloser Verschleiß des Kapitalstocks der DDR. Im Normalfall wurden Produktionsanlagen erst nach 20 Jahren durch neue ersetzt. 50 Prozent und mehr der Anlagen und Gebäude waren 1989 schrottreif. Weil der Plan nur sehr unzureichend den Verschleiß von Produktionsmaschinen berücksichtigte, wurde hier im Durchschnitt am wenigsten neu investiert, woraufhin immer mehr Kapital für deren Erhaltung aufgebracht werden mußte. Insbesondere in der extrem vernachlässigten Konsumgüterindustrie führte die Überalterung der Produktionsanlagen zu massiv steigenden Stillstandzeiten und Havarien, worauf die Produktivität sank. Die DDR hatte also in den 80er Jahren in Wirklichkeit weiter an Boden verloren, statt "nach Plan" aufzuholen. (Fritze 1993: 31, 54; Görzig & Gornig 1991: 37 ff.; Gutmann & Buck 1986: 8 ff.; Haendcke-Hoppe-Arndt 1996: 58)
Es bleibt folgende Absturzspirale zusammenzufassen: Die Ausgaben für das Sozialprogramm, unrentable Projekte und den Sicherheitsapparat trieben die Verschuldung im Westen immer weiter in die Höhe. Um die Stabilität des SED-Staates nicht zu gefährden, wurden nicht die Gelder für subventionierte Waren und Staatssicherheit, sondern die Investitionen kontinuierlich heruntergefahren. Dadurch verlor die Wirtschaft an internationaler Wettbewerbsfähigkeit und es mußten immer mehr Güter exportiert werden, weil deren Preis ständig fiel. Ohne die Revolution hätte die DDR nur noch sehr kurzfristig den Schein der Stabilität wahren können und bei einer zusammenbrechenden Industrie über kurz oder lang ihre Zahlungsunfähigkeit bekannt geben müssen. Das sozialistische Wirtschaftssystem der DDR hatte sich letztendlich als unfähig erwiesen, auf die Veränderungen des freien, wie auch des RGW-internen Marktes adäquat zu reagieren und am Ende brach die Substanz, von der über zwei Jahrzehnte gezehrt wurde zusammen. "Das sozialistische Experiment der SED in Ostdeutschland hatte somit nach 40 Jahren DDR ein auf immense Entwicklungshilfe angewiesenes Schwellenland zurückgelassen." (Gutmann & Buck 1996: 8)
2.4. Resultierende Stimmung in der Bevölkerung
Der Zustand der DDR-Wirtschaft wirkte sich naturgemäß auf die Stimmung in der Bevölkerung aus, die abschließend skizziert werden soll.
Honecker behauptete noch Ende 1988, der Lebensstandard der Bevölkerung wäre in der DDR im Grunde höher als in der Bundesrepublik. In der Tat konnte mit subventionierten Gütern des täglichen Bedarfs verschwenderisch umgegangen werden. Brot war hierfür ein prägnantes Beispiel: Wenn von 100 Brötchen für das Wochenende die Hälfte weggeworfen wurde, fiel das bei einem Kaufpreis von insgesamt 5 Mark nicht ins Gewicht. Bei diesen Preisen wurde frisches Brot von der Bevölkerung sogar an Kaninchen verfüttert. Alle Produkte, die mehr als elementarste Grundbedürfnisse deckten, waren dagegen knapp. Die Konsumgüterindustrie stand, wie oben angesprochen wurde, kurz vor dem Zusammenbruch, eigene hochwertige Artikel mußten exportiert werden und für Westimporte fehlten die Devisen. Selbst Frischobst und Gemüse wurden zur Mangelware. Der Lebensstandard der Bevölkerung sank. (Schneider 1996: 111 f.; Seebacher-Brandt 1992: 36; Wolle 1998: 192 f.)
Die Menschen hatten also nicht zu Unrecht den Eindruck, daß sie für ihr Geld nicht das kaufen konnten, was sie eigentlich wollten. Nur minderwertige, nicht exportierbare Ware, die eigentlich niemand erwerben wollte, war in ausreichendem Maße vorhanden. (Haendcke-Hoppe-Arndt 1995: 128; Wolle 1998: 193) Um die Schere im Verhältnis zwischen vorhandenem Kapitalumlauf und Produktangebot wieder zu schließen, wurden bei einer tatsächlichen oder auch nur angeblichen Qualitätsverbesserung von Artikeln enorm die Preise erhöht. Ein Walkman, der im Intershop 50 DM kostete, wurde schließlich im normalen Einzelhandel für 399 Mark der DDR angeboten. Nach realen Umtauschverhältnissen von 1:4 mußten die DDR-Bürger also fast den doppelten Preis für dieses Produkt zahlen, als ein Konsument in der Bundesrepublik. Ähnliches galt für hochwertige Schuhe, Fernseher, Radios und Computer. Durch Westreisende entwickelte sich außerdem ein Schwarzmarkt für Produkte, welche die DDR nicht mehr zu importieren in der Lage war. Diese waren zum Leidwesen der SED-Führung im Vergleich günstiger und hochwertiger als Artikel, die in der DDR gegen die Binnenwährung ohnehin nur mit Glück zu bekommen waren. (Schneider 1996: 116 ff., Wolle 1998: 197)
Insgesamt wurden die Widersprüche zwischen Propaganda und Lebenswirklichkeit immer größer und so verwundert es nicht, daß bereits 1987 das Ministerium für Staatssicherheit über einem erheblichen Anstieg kritischer Diskussionen in der Bevölkerung berichtete. Ursache war einerseits das tatsächlich sinkende Versorgungsniveau, andererseits der Vergleich mit der Bundesrepublik, der im Rahmen zunehmend großzügig gehandhabter "Reisen in dringenden Familienangelegenheiten" von immer mehr Menschen direkt gezogen werden konnte. (Schneider 1996: 113 f.; Süß 1996b: 239; Wolle 1998: 193)
In ihrer Wirkung auf die Stimmung in der Bevölkerung waren auch die Folgen der oben dargestellten Industriebereiche Energie- und Bauwirtschaft nicht zu unterschätzen: Es sei an die Ausführungen über Gesundheitsschäden durch industrielle Emissionen und allgemeine Wohnungsknappheit erinnert. Selbst wenn nach langen Wartezeiten eine Neubauwohnung zugeteilt wurde, blieb zweifelsohne für die Betroffenen ein Verlust an Lebensqualität bestehen: Kulturelle Einrichtungen, Sportanlagen, Parks und Kinderspielplätze in unmittelbarer Nähe der Neubauwohnungen waren ebenso trist angelegt, wie die Wohnungen selbst, oder fehlten vollständig. Außerdem nahmen die Arbeitswegzeiten und der damit verbundene Streß zu. Nicht zu vergessen ist auch der Verlust von "Heimatgefühl" aufgrund des Verfalls der Innenstädte. (Buck 1996a: 80 f.) Weil Ost-Berlin bei Bauvorhaben bevorzugt wurde, stellte sich die Situation in Provinzstädten besonders dramatisch dar, was beispielsweise in Leipzig zu scharfer Kritik in der Bevölkerung führte. (Buck 1996a: 81 f.; Zwahr 1993: 137)
1989 hätten aufgrund der geschilderten Umstände westliche Reporter zumindest erkennen können, daß die Bevölkerung nicht gerade glücklich über ihre materielle Lebenssituation gewesen ist. Ein dramatisches Indiz stellte allein die Massenflucht via Ungarn dar, die an anderer Stelle noch angesprochen wird.
Nicht bekannt waren hingegen geheimgehaltene und deshalb wohl nicht manipulierte Studien, die in den späten achtziger Jahren in der DDR durchgeführt wurden. Sie belegen einen geradezu erdrutschartigen Einbruch der Stimmung der Bevölkerung seit 1987. Die im folgenden angesprochenen Erhebungen wurden der Veröffentlichung "Mentalitätsentwicklungen im Osten Deutschlands seit den 70er Jahren" von Thomas Gensicke entnommen. Es handelt sich dabei zwar nicht um repräsentative Stichproben, dennoch ging der Autor davon aus, daß man mit ihrer Hilfe zumindest auf Trends schließen kann.(12) (Gensicke 1992: 3 ff.)
Die Akademie für Gesellschaftswissenschaften Berlin führte eine Berufstätigenuntersuchung "Wissenschaftlich-technischer Fortschritt - Arbeit - Sozialstruktur - Persönlichkeit, (Berufstätige), 1988 - Anfang 1989" durch, im folgenden mit dem Kurznamen IU88 bezeichnet. Bei dieser Untersuchung wurde Probanden eine Liste mit gesellschaftlichen Aufgaben in der DDR vorgelegt und gefragt, wie dringlich deren Lösung sei. Im Anschluß sollten die Befragten angeben, ob und in welchem Maße sie Verbesserungen erwarten. (13) (Gensicke 1992: 13)
Wie auch Graphik 1(14) auf der nächsten Seite zu entnehmen ist, gaben zu den Vorgaben "Schutz der Umwelt" und "Versorgung mit Konsumgütern und Dienstleistungen" (in der Graphik "Konsum") 84 bzw. 74 Prozent der Befragten an, daß es sich hierbei um Probleme handelt, deren Lösung äußerst dringlich sei. (Gensicke 1992: 13 f.) Allgemein fällt auf, daß die Befragten zu einem beachtlichen Prozentsatz bei allen Problemvorgaben dringenden Handlungsbedarf gesehen haben.
Dem gegenüber stand nur eine geringe Anzahl von Probanden, die eine erhebliche Verbesserung der Situation bis zum Jahr 2000 erwarteten. Bei Antwortvorgaben "keine Verbesserung", "geringe Verbesserung" und "erhebliche Verbesserung", erhofften zu der Vorgabe "Umwelt" lediglich 24 Prozent, bei "Waren und Dienstleistungen" nur 23 Prozent eine "erhebliche Verbesserung" (Gensicke 1992: 91). Einzig in den Bereichen Technik und Wohnen bestand bei mehr als einem Drittel der Befragten noch Hoffnung auf erhebliche Verbesserungen (Gensicke 1992: 14).
Gensicke zieht den Schluß, daß man "[...] einen deutlichen Gegensatz zwischen den Aufgaben, die der Politik gestellt werden und den Erwartungen, ob bis zum Jahre 2000 erhebliche Verbesserungen eintreten würden [erkennt]. Mir scheint, dieser Befund wirft Licht auf die sozialpsychische Situation und wichtige Motive, die zur ostdeutschen Revolution führten. Einerseits waren 1988/89 im Bewußtsein der DDR-Bürger die Verbesserung des Umweltschutzes und der Versorgungslage (diese war schon immer ein Hauptproblem) außerordentlich wichtig geworden. Andererseits hatte sich in der Bevölkerung eine Stimmungslage herausgebildet, nach der sie auf längere Zeit unter den herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen in dieser Hinsicht kaum mit Verbesserungen rechnete." (Gensicke 1992: 13)
Diese recht hoffnungslose Stimmung in der Bevölkerung läßt sich darauf zurückführen, daß in den vorangegangenen Jahren in wichtigen Bereichen erhebliche Verschlechterungen wahrgenommen wurden, wie Graphik 2 auf der folgenden Seite zu entnehmen ist. Auch hier stechen wieder die Bereiche Umwelt und Warenangebot heraus. (Gensicke 1992: 16) Die oben dargestellten Wirkungen der zusammenbrechenden Konsumgüterindustrie und Energiewirtschaft schlugen also voll auf die Stimmung in der Bevölkerung durch.
Die allgemeine Unzufriedenheit und Perspektivenlosigkeit wird bestätigt durch die Angaben zu Einkaufsmöglichkeiten und Dienstleistungen. Bei weiteren Fragen, die hier nicht näher betrachtet werden, gaben außerdem 65 Prozent der Probanden an, daß es unwahrscheinlich oder ausgeschlossen sei, daß der technologische Abstand zum Westen sich in absehbarer Zeit auch nur verringern würde. Entsprechend erwarteten nur 35 Prozent überhaupt erhebliche technische Verbesserungen in der DDR. Nur 26 Prozent waren mit der technischen Ausstattung an ihrem Arbeitsplatz zufrieden (Gensicke 1992: 16).
Im Gegensatz dazu verblüfft die scheinbar verbesserte Wohnsituation. Hypothetisch läßt sich dies durch die Teile der Bevölkerung erklären, die tatsächlich von einem verfallenen Altbau in eine Neubauwohnung umziehen konnten. Die anderen Veränderungen im positiven Bereich erscheinen ambivalent. Verbesserten Arbeitsbedingungen und tendenziell eher positiv zu bewertenden höheren Qualifikationsanforderungen stand ein deutlich gestiegener Leistungsdruck gegenüber.
Ihre Dramatik gewinnt die den obigen Ausführungen zugrunde liegende IU88-Untersuchung im Vergleich mit den früheren Untersuchungen SD 87 (15) und "Frieden ‘87"(16). Bei der Haushaltsuntersuchung SD 87, die ein Jahr zuvor durchgeführt wurde, waren noch zwei Drittel der Befragten mit den Umweltbedingungen, und immerhin gut die Hälfte mit den Einkaufsmöglichkeiten zufrieden. Im Rahmen der Berufstätigenuntersuchung "Frieden ‘87" gaben 68% der Befragten sogar noch an, daß ihr Lebensstandard sich verbessere. (Gensicke 1992: 18 ff.)
Die DDR-Bürger waren also gegenüber 1987 deutlich unzufriedener geworden und sahen für die Lösung drückender Probleme keine Perspektive. (Gensicke 1992: 16).
Eine weitere Erkenntnis aus der Beschäftigtenuntersuchung "Frieden ‘87" stellt die abnehmende Integration jüngerer Jahrgänge mit der DDR-Gesellschaft dar. So fühlten sich zwar alle Altersgruppen nahezu vollständig für die eigene Arbeit verantwortlich, für das Kollektiv und insbesondere den Betrieb nahm die Verantwortung mit dem Lebensalter aber stetig ab. Analog dazu arbeiteten weniger jüngere Arbeitnehmer nach eigenen Angaben "über dem Soll" als ihre älteren Kollegen und die Bereitschaft zu Sonderschichten war mit sinkendem Alter rückläufig. Dieses Bild setzte sich außerhalb des Betriebes fort bei ehrenamtlichen Tätigkeiten, dem Engagement in Massenorganisationen oder Kampfgruppen, sowie bei politischen Lehrgängen, Demonstrationen und Parteiarbeit. Auch die Diskussionshäufigkeit politischer Themen war insbesondere in institutionell geprägten sozialen Kontexten in jüngeren Kohorten vergleichsweise gering. (Gensicke 1992: 20 ff.)
Wahrscheinlich ließen sich diese Sachverhalte auf die zunehmenden Relevanz hedonistischer und materieller Werte in jungen Bevölkerungsgruppen zurückführen, die ebenfalls in Erhebungen erfaßt wurden. "Pflicht- und Akzeptanzwerte wie ‘Disziplin’ und Leistung’, idealistische und gesellschaftsorientierte Motive wie ‘Friedensbeitrag’, ‘Teilnahme am gesellschaftlichen Leben’, ‘Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung’ waren unter den Jüngeren deutlich geringer ausgeprägt. [...] Umgekehrt verhält es sich, wenn hedonistische, materielle und Motive der Geselligkeit und des beruflichen Weiterkommens ins Spiel kamen. Dann reagierten die Jüngeren deutlich stärker als die Älteren." (Gensicke 1992: 26)
Es ist nicht auszuschließen, daß der Kurs Honeckers, der seit Anfang der 70er Jahre die Befriedigung materieller Bedürfnisse der Bevölkerung zum Ziel hatte (Gensicke 1992: 26; Lehmann 1996: 284 ff.) diesen Trend erst auslöste oder zumindest begünstigte. Fest steht, daß die wirtschaftliche Situation Ende der 80er Jahre in der DDR die Erfüllung dieser Werte immer weniger ermöglichte.