4. Machtverfall der SED: 1. September bis 9. November 1989

4.1. Skizzierung der Ereignisse

Auf Massenflucht und Botschaftsbesetzungen wurde bereits in der ersten Untersuchungsphase bis Ende August 1989 eingegangen. An dieser Stelle muß schon aus Platzgründen der Hinweis genügen, daß sich die Fluchtbewegung unvermindert fortsetzte, bzw. sogar steigerte. (Wolle 1998: 289) Allenfalls ein Aspekt sollte noch Erwähnung finden: Seit Anfang Oktober war die visafreie Ausreise in die Tschechoslowakei, und damit die mehr oder weniger ungehinderte Flucht über Ungarn nicht mehr möglich. Gleichzeitig stimmte die SED-Führung der Ausreise von Botschaftsflüchtlingen zu, sofern diese mit Sonderzügen über das Gebiet der DDR erfolgen würde. Entlang der betroffenen Bahnlinien kam es Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Ausreisewilligen, die in diesen Zügen ihre letzte Chance für eine Flucht in den Westen sahen. (Lindner 1998: 71 ff.)

Anfang September 1989 spaltete der Ausreisewunsch noch die Oppositionsbewegung. Sehr viele Menschen wollten durch Protestaktionen lediglich ihren Ausreiseantrag beschleunigen und interessierten sich nur am Rande für die Zukunft der DDR. An diesem Gegensatz zerbrach am 4. September eine erste Demonstration in Leipzig. Dennoch sollte sie den Auftakt für die kommenden erfolgreichen Montagsdemonstrationen darstellen. (Zwahr 1993: 19). Eine neue Qualität der Aktivitäten von Bleibewilligen, die die DDR Reformieren wollten, stellte die öffentliche Forderung eines gesellschaftlichen Dialoges durch das "Neuen Forum" dar. Dessen Gründungsaufruf kursierte offen in Betrieben und wissenschaftlichen Institutionen. Am 19. September meldete sich die Gruppe schließlich in elf Bezirken der DDR offiziell an. Gleichzeitig formierten sich weitere Gruppen, nämlich der "Demokratische Aufbruch" (DA), "Demokratie Jetzt" (DJ) und die "Sozialdemokratische Partei in der DDR" (SDP), um die wichtigsten zu nennen. Eine offene Diskussion kam in Gang, die immer weniger vom Wunsch die DDR zu verlassen geprägt war. (Wolle 1998: 310 f.)

Obwohl die Oppositionsgruppen weder offen den Führungsanspruch der SED ablehnten noch den Sozialismus als Gesellschaftssystem in Frage stellten, reagierten die Staatsführung, sowie die örtlichen Behörden zunächst feindselig und später "verwirrt". Die "Verwirrung" in der SED war auf eine tiefe Spaltung der Partei in Gegner und Befürworter eines von den Oppositionsgruppen geforderten öffentlichen Dialoges zurückzuführen. Trotz aller Zweifel von jüngeren Funktionären der mittleren und höheren SED-Ebene, regte sich aber zunächst kein Widerstand gegen die Hardliner innerhalb der Partei. Wolle sieht hierin den eigentlichen Auslöser des Machtverfalls der SED. (Wolle 1998: 315 ff.) Daß die Staatsspitze anfangs keinerlei Anstalten machte, in einen Dialog mit der Opposition zu treten, beweist die Ablehnung eines offiziellen Status für das "Neue Forum" und die gleichzeitige Verunglimpfung im "Neuen Deutschland". (Wolle 1998: 311)

Entsprechend war die Zeit von September 1989 bis zum Mauerfall zunächst durch immer stärkere Unmutsäußerungen der Bevölkerung geprägt, welche die SED-Spitze durch ihre harte Haltung noch schürte. Am 25. September entlud sich der Protest in der ersten in sich geschlossenen Montagsdemonstration in Leipzig mit etwa 10.000 Teilnehmern. Ausgangspunkt war ein Friedensgebet in der Nikolaikirche. Die Menschen skandierten die Internationale, "We shall overcome" und Parolen wie "Freiheit" und "Neues Forum zulassen". Es kam zu einigen Verhaftungen. Eine Woche später demonstrierten bereits ca. 20.000 Personen. Auch Polizeiketten und sporadischer Schlagstockeinsatz konnte den Marsch durch Leipzig nicht verhindern. (Zwahr 1993: 23 ff.) In anderen Städten stellte sich die Situation in diesen Tagen ähnlich dar, wobei es in Dresden anläßlich der Sonderzüge von Botschaftsflüchtlingen durch die DDR in der Nacht vom 3. zum 4. Oktober zu regelrechten Straßenschlachten kam. (Lindner 1998: 73; Wolle 1998: 320; Zwahr 1993: 61)

In Berlin schien es am 7. Oktober zunächst bei einigen Verhaftungen zu bleiben, obwohl die 40-Jahr-Feiern mit der allmonatlichen Gedenkdemonstration an die Wahlfälschung vom Mai zusammenfielen. Es kam zu keinem Großeinsatz der Sicherheitskräfte und offenbar wollte die SED-Führung ihrem Staatsgast Gorbatschow zuliebe "noch einige Stunden die brüchigen Fassaden des Potjomkinschen Dorfes DDR aufrechterhalten und das unangenehme Schauspiel von Straßenschlachten vermeiden." (Wolle 1998: 321) "Der Staatsterror wurde erst nach Abschluß der Jubelfeiern befohlen". (Zwahr 1993: 61) Erich Mielke und sein Ministerium für Staatssicherheit ließen offenbar nichts unversucht, nun selbst für eine Eskalation zu sorgen. Ziel waren zunächst etwa 3000 Demonstranten auf der Spreebrücke und später die Besucher der Gethsemanekirche, die eine Fürbitt-Andacht besucht hatten. Insbesondere Frauen wurden wahllos aus der Menge herausgegriffen und mißhandelt, um männliche Demonstranten zu gewaltsamen Handlungen gegen die Sicherheitskräfte zu provozieren. Aufrührerisch gegenüber der Volkspolizei verhielten sich dennoch nur STASI-Lockvögel, die sich offenbar unter die Demonstranten gemischt hatten, um den Eindruck einer gewaltbereiten Menschenmasse zu suggerieren. Am nächsten Tag wiederholte sich das extrem harte Vorgehen der Staatsmacht auch in anderen Städten. (Wolle 1998: 322 f.; Zwahr 1993: 61 ff.) Es ist davon auszugehen, daß die Offiziere in den Befehlszentralen tatsächlich eine bürgerkriegsähnliche Situation provozieren wollten. (Wolle 1998: 322 f.; Zwahr 1993: 61 ff.)

Am Montag, den 9. Oktober schien Leipzig am Rand einer "chinesischen Lösung" zu stehen, selbst schweres Gerät der Armee wurde den Demonstranten entgegengestellt. Doch das von vielen Menschen befürchtete Blutbad blieb aus. Wolle führt dies darauf zurück, daß "[...] die Parteispitze am Vormittag ganz offenbar die endgültige Weisung erteilt hatte, eine Eskalation der Ereignisse zu vermeiden." (Wolle 1998: 323). "Krenz betont, die SED-Führung habe damals strikt gegen den Einsatz von Schusswaffen plädiert." (Wallbaum in "Die Rheinpfalz" Nr. 197 vom 26.8.1999, S. 3) Nach den auf Augenzeugenberichten basierenden Ausführungen Zwahrs hatte die Zurückhaltung der Einsatzkräfte ganz andere Ursachen. Gegen die SED-Spitze hatten drei Bezirkssekretäre der SED, nämlich Meyer, Wötzel und Pommert, zusammen mit dem Theologen Dr. Zimmermann, dem Kabarettisten Lange und dem Gewandhauskapellmeister Masur einen "Text der Verweigerung" aufgesetzt. Dieser wurde in den Kirchen verlesen und im Stadtrundfunk ausgestrahlt. Nach Zwahr hat dieses Dokument, zusammen mit den gewaltlosen Demonstranten, welche die Sicherheitskräfte in Diskussionen verwickelten, den Umschwung gebracht. Die bewaffnete Macht vor Ort war nicht mehr bereit für das Politbüro Blut zu vergießen. (Zwahr 1993: 93 f.) Demnach hatte in Leipzig die SED-Spitze ihre Macht verloren, aber keinesfalls aus eigenem Willen die Politik der Härte aufgegeben. Für diese Sicht der Dinge spricht die Tatsache, daß es beispielsweise in Halle immer noch zu Gewaltaktionen kam. (Löhn 1996: 11 ff.) Auch Wetting führt aus, daß Einsatzleitung und Demonstranten nach einer Lösung zur Vermeidung eines Blutbades suchten, schreibt aber Egon Krenz diesen Wunsch ebenfalls zu. (Wetting 1996: 410 f.)

Darin, daß sich spätestens am 16. Oktober die Situation grundlegend verändert hatte, sind sich alle Autoren wieder einig. In der Folge überzogen immer mehr Demonstrationen, die von immer mehr Menschen getragen wurden, die DDR. In der Woche vom 23. bis 30. Oktober zählte die STASI, die weiterhin observierte, bereits über 130 Demonstrationen mit etwa einer halben Million Teilnehmern. (Wolle 1998: 324)

Ost-Berlin bildete das Schlußlicht der Demokratiebewegung. Nach den 40-Jahr-Feierlichkeiten blieb es in der Hauptstadt zunächst ruhig. Am 24. Oktober kam es zu einer spontanen, also nicht von Oppositionsgruppen geplanten Demonstration gegen den gerade zum Staatsratsvorsitzenden gewählten Egon Krenz. (Neubert 1997: 874) Aber erst bei einer Massenveranstaltung am 4. November trat die Opposition in Ost-Berlin aus dem Schatten der Kirchen heraus. Die Diskussion wurde Live im Fernsehen übertragen und stellte nun tatsächlich einen offenen Dialog dar, an dem sich auch SED-Spitzenfunktionäre beteiligten. Zu diesem Zeitpunkt versuchte die scheinbar geläuterte SED sich an die Spitze der Reformbewegung zu setzten, um sie zu neutralisieren und ihren eigenen politischen Führungsanspruch zu retten. (Moreau 1996: 299; Neubert 1997: 874; Wolle 1998: 235 f.) Ursprünglich als "Geheim-Glasnost" ab Januar 1990 geplante Veränderungen, wie eine Lockerung der Zensur, wurden notgedrungen vorverlegt. Ziel war es, "[...] der Bevölkerung echten Veränderungswillen vorzugaukeln und vielleicht noch einen Rest der Macht zu retten." (Wolle 1998: 318 f.) Die Pfiffe der Massen bei den Reden von Günter Schabowski und Markus Wolf zeigten jedoch, daß dieser Plan nicht aufging. Erst nachdem die Staatsführung die Straße endgültig an die Menschenmassen verloren hatte, kam es also zu Reformen, die aber die Glaubwürdigkeit der SED auch nicht mehr retten konnten. (Neubert 1997: 874) In Oppositionskreisen kam statt dessen seit dem 6. November die Forderung nach einem "Runden Tisch" für die DDR auf. (Thaysen 1990: 62)

Es bleibt noch die Entwicklung an der Staatsspitze zu skizzieren. Erich Honecker bekundete öffentlich, den Flüchtlingen aus der DDR keine Träne nachzuweinen. Rational war dies insoweit, als die SED-Führung eine Zeitlang offenbar die Hoffnung hegte, sich für die 40-Jahr-Feierlichkeiten durch Ausreisegenehmigungen ein wenig Luft zu verschaffen. Allerdings wurde noch vor dem Jahrestag der Republikgründung die Visa-Pflicht für Reisen in die ÈSSR angekündigt, um die Massenflucht via Ungarn zu stoppen. (Moreau 1996: 296 f.)

Schon aus Rücksicht auf Moskau waren sich Krenz, Schabowski und Lorenz seit September einig, daß Honecker zurücktreten müsse. Zwahr vertritt dabei die Meinung, daß der eigentliche Auslöser für den Wunsch, Honecker abzusetzen, in den Vorfällen vom 3. Oktober in Dresden und 9. Oktober in Leipzig zu suchen ist. Die Tatsache, daß dort die örtlichen Machtorgane ihre Handlungsfähigkeit verloren hatten, bzw. die Politik der Härte des Politbüros nicht mehr stützen wollten, machten einen Machtwechsel an der Staats- und Parteispitze demnach unumgänglich. Ob nun durch den Druck der Straße, oder durch sonstige Einflüsse, in jedem Fall setzte Krenz am 10. Oktober im Politbüro eine Erklärung durch, die den Oppositionskräften einen Dialog anbot. Am 18.10. trat Honecker schließlich aus angeblich gesundheitlichen Gründen von seinen ämtern zurück, nachdem er feststellen mußte, im innersten Zirkel der SED keinen Rückhalt mehr zu besitzen. Seinem Beispiel folgten Mittag und Herrmann. (Lindner 1998: 73 f.; Moreau 1996: 298 ff.; Zwahr 1993: 103)

Egon Krenz, Nachfolger von Honecker als Staatsratsvorsitzender, vermittelte in seiner Antrittsrede aber auch nicht unbedingt den Willen zu tiefgreifenden Reformen. Noch am 26. Oktober titelte das "Neue Deutschland": "Wir brauchen den Dialog, nicht Unruhe und Gebrüll" und warnte die Bevölkerung davor, sich vom harten Kern der Oppositionellen mißbrauchen zu lassen. Dies spricht dafür, daß sich das Dialogangebot zunächst nicht an die sich organisierende Opposition richtete. Tatsächlich versuchte die SED, in erster Linie auf Bezirksebene und in den Basisorganisationen, das Gespräch direkt mit der Bevölkerung zu finden. (Moreau 1996: 300 ff.) Dabei gewannen Modrow, Wolf und Berghofer zunehmend auf Kosten von Krenz an Popularität. Durch den Druck der öffentlichkeit wurden Männer der alten Garde aus ihren ämtern entfernt. Die Reden von Wolf, Gysi und Bisky auf der schon genannten Massenveranstaltung am 4. November in Berlin leiteten schließlich auch den offenen Kampf zwischen echten Reformern und Hardlinern innerhalb der SED ein. Nach der bis dahin größten Demonstration in Leipzig trat am 7. November die Regierung Stoph zurück. Auf der 10. Tagung des SED-Zentralkommitees vom 8. bis 10. November gab Krenz in seiner Eröffnungserklärung schließlich den Rücktritt des gesamten Politbüros bekannt. (Moreau 1996: 305 f.)

Es gelang der SED zu keiner Zeit, sich an die Spitze der Reformbewegung zu setzen und ihre aktive Handlungsfähigkeit zurückzuerlangen. Selbst der Entwurf eines Reisegesetzes, der am 6. November im "Neuen Deutschland" abgedruckt wurde, fand keine Akzeptanz in der Bevölkerung. Die enthaltenen Vorschriften wurden dahingehend interpretiert, daß die SED weiterhin über MfS und Polizei den Reiseverkehr kontrollieren wolle. (Moreau 1996: 305 f.) Am 8. und 9. November beschloß das ZK der SED schließlich, daß zunächst Oppositionsgruppen zugelassen, und später freie Wahlen durchgeführt werden sollten. Am Nachmittag des 9.11. fiel außerdem der Beschluß, daß Besuchs-, wie endgültige Ausreisen in westliche Staaten mit sofortiger Wirkung ohne Voraussetzungen möglich sein sollten. Eine ungeschickte Antwort Schabowskis am Ende einer Pressekonferenz am gleichen Abend führte dazu, daß diese Nachricht ohne das dazugehörige Regulierungsverfahren verbreitet wurde. Tausende Menschen strömten an die Berliner Grenzübergänge und erzwangen deren öffnung. Alle behördlichen Versuche, noch irgendwelche Formalitäten durchzusetzen, waren zum Scheitern verurteilt. (Neubert 1997: 876; Wolle 1998: 326).

4.2. Quantitative Auswertung der Zeitungen

4.2.1. Erklärung der Kategorien

Entsprechend der Artikelinhalte wurden folgende Kategorien für den zweiten Untersuchungsabschnitt gewählt:

a. Wirtschaft

Da in allen drei Zeitungen nur sehr wenige Inhalte über die wirtschaftliche Situation in der DDR zu finden waren, mußten sie kaum abstrahiert werden und sprechen daher für sich selbst. Bei konstanten unterschiedlichen Darstellungen wurden sie bei den Zeitungen variiert.

b. Vorhandene Institutionen (SED, Blockparteien, etc.):

In die Rubrik "Härte / keine Reformen" wurden alle Aussagen eingeordnet, welche als Durchsetzung des Status Quo durch die Staatsführung zu interpretieren sind. Im wesentlichen handelte es sich dabei um Schilderungen von Festnahmen und Aussagen von, bzw. über die Staatsführung, welche diese als reformunwillig darstellten. "Rat- und Hilflosigkeit" ist die Umschreibung für Inhalte, nach denen die SED nicht in der Lage war, einen dauerhaften Ausweg aus der verfahrenen Situation zu finden. Dazu zählen beispielsweise Aussagen, die den Massenexodus als willkommenes Ventil der Staatsführung, sich der unzufriedensten Menschen zu entledigen, interpretierten. In aller Regel wurde in den entsprechenden Beiträgen explizit auf "Ratlosigkeit" oder "Hilflosigkeit" der Führung hingewiesen. Der wesentliche Unterschied zur vorherigen Kategorie besteht darin, daß hier weniger auf Reformunwilligkeit, sondern auf Reformunfähigkeit hingewiesen wurde.

Die Ausführungen, welche auf Reformen seitens der Staatsführung hinwiesen, mußten differenzierter erfaßt werden, denn die Qualität der Veränderungen wurde unterschiedlich wahrgenommen. In die Kategorie "vorsichtige Reformen und Veränderungen" wurden alle geschilderten Sachverhalte aufgenommen, die darauf hindeuteten, daß sie primär dazu dienen sollten, der Opposition den Wind aus den Segeln zu nehmen und den Führungsanspruch der SED aufrechtzuerhalten. Neben Artikeln, in denen diese Sichtweise explizit vertreten wurde, fanden hier alle Aussagen Aufnahme, in denen der Dialog mit Oppositionellen sich auf die untere, also Bürgermeister- und Bezirksebene beschränkte. Außerdem wurden Rücktritte und Amnestien für "Republikflüchtlinge" und Demonstranten dort eingeordnet. Zuletzt finden sich hier die Schilderungen erster Anzeichen von Pressefreiheit. Der Kategorie "Weitreichende Reformen und Veränderungen" wurden entsprechend alle Anordnungen und Verhaltensweisen zugeordnet, in der die SED tatsächlich ihre Machtpositionen aufgab oder Bereitschaft signalisierte, diese zu teilen. Dazu zählen Aussagen über vollständige Pressefreiheit, Gespräche mit der Opposition durch SED-Spitzenfunktionäre, Ankündigungen über Reisefreiheit und den eventuellen Verzicht der SED auf ihren Alleinvertretungsanspruch. Natürlich korrelierten dieses Abstufungen deutlich mit der Zeitachse, aber "Hinhaltereformen" wurden auch noch unmittelbar vor dem Fall der Mauer wahrgenommen.

Alle Berichte, welche Reformer innerhalb der SED darstellten, oder die zunehmende Eigenständigkeit von Blockparteien und FDGB schilderten, wurden in die Kategorie "Reformer innerhalb vorhandener Institutionen" aufgenommen.

c. Opposition und Bevölkerung:

Bei "Resignation oder mehr oder weniger positive Akzeptanz" wurden alle Aussagen eingeordnet, die positive Statements zur SED-Politik aus der Bevölkerung oder Passivität zum Ausdruck brachten. Somit repräsentiert diese Kategorie den Teil der Inhalte, bei denen die betrachteten Menschen nicht aktiv auf Reformen drängten. Für Ausführungen, in denen einzelne Personen oder Oppositionsgruppen zwar teilweise auch Reformen forderten, aber ausdrücklich am Sozialismus als Gesellschaftssystem festhalten wollten, wurde die Kategorie "Sozialismus wird explizit nicht in Frage gestellt" eingeführt.

"Massenflucht und Botschaftsbesetzungen" spricht für sich selbst. Zu beachten ist, daß hier Inhalte, die ausschließlich die neuen Lebensumstände von übersiedlern in der Bundesrepublik thematisierten, nicht berücksichtigt wurden.

Sämtliche Schilderungen von Demonstrationen finden sich in der gleichnamigen Tabellenzelle.

Alle dargestellten äußerungen außerhalb von Demonstrationen wurden getrennt "Forderungen und Darstellung von Oppositionsgruppen (ohne Demos)" und "Forderungen / Unmut in der Bevölkerung (ohne Demos)" zugeordnet. Zu beachten ist, daß in die letzte Kategorie auch allgemeiner Protest, Unmut, oder Aussagen, daß man keine Angst mehr habe, aufgenommen wurden. Solche Darstellungen spiegelten zwar keine gewünschte Richtung, aber zumindest den Wunsch nach Veränderungen wider.

d. Prognosen

Die Kategorien bei den Prognosen sprechen aufgrund des geringen Abstraktionsniveaus für sich. Sie unterscheiden sich je nach den vorherrschenden Inhalten der Zeitungen.

4.2.2. Die TAGESZEITUNG

Die TAZ lag, wie in der Einleitung bereits beschrieben wurde, für den Untersuchungszeitraum auf CD-ROM vor. Primär in Volltextsuche wurden mit Stichworten entsprechend der Fragestellung potentiell relevante Artikel vorselektiert.(23) Die resultierende Liste wurde durchgesehen und alle Beiträge, die sich beispielsweise ausschließlich mit anderen Ostblockstaaten auseinandersetzten, oder das Thema DDR nur aus bundesdeutscher Sicht, z.B. in Form einer Deutschlanddebatte innerhalb der GRÜNEN betrachteten, aussortiert. Es verblieben 248 relevante Artikel.

Tabelle 7: Tendenz der Berichterstattung über die DDR in der TAZ von September bis 9. November 1989
Wirtschaft vorhandene Institutionen
(SED, Blockparteien, etc.)
Opposition und Bevölkerung Prognosen
Mißwirtschaft, Versorgungsknappheit und Ruin

7

Härte / Keine Reformen

40

Resignation oder mehr oder weniger positive Akzeptanz

6

Nur tiefgreifende Reformen können die SED retten

4

Flüchtlinge reißen Lücken

6

Rat- und Hilflosigkeit

8

Sozialismus wird explizit nicht in Frage gestellt

5

DDR verliert ohne Sozialismus Existenzberechtigung

2

Devisenknappheit / niedriger DDR-Mark-Schwarzmarktpreis

9

vorsichtige Reformen und Veränderungen

58

Massenflucht und Botschaftsbesetzungen

54

Vereinigung Deutschlands / Mauerfall

2

Umweltproblematik:

7

weitreichende Reformen und Veränderungen

30

Demonstrationen

57

Zusammenarbeit mit bundesdeutschen Unternehmen

1

Berlin-Provinz-Gefälle bei Zuteilung von Ressourcen

1

Reformer innerhalb vorhandener Institutionen

16

Forderungen und Darstellung von Oppositionsgruppen (ohne Demos)

35

Warnung vor zu viel Euphorie

1

Eindeutig Annahme "offizieller" Schuldenstand

1

Forderungen / Unmut in der Bevölkerung (ohne Demos)

35

Aus dem Bereich "Wirtschaft" in Tabelle 7 geht hervor, daß zumindest die nach außen hin sichtbaren Probleme der DDR-Wirtschaft, abgesehen von der tatsächlichen Schuldenlage, wahrgenommen wurden. Allerdings wurde ihnen nur sehr wenig Augenmerk gewidmet, wie man an der im Vergleich geringen Zahl der gefundenen Inhalte erkennen kann. Beachtet man außerdem, daß mehr als die Hälfte davon mit Flüchtlingen und der Frage, wie die DDR Westreisen ihrer Bevölkerung überhaupt adäquat finanzieren könnte in Verbindung standen, verstärkt sich dieser Eindruck.

Die Spalte "vorhandene Institutionen (SED, Blockparteien, etc.)" spiegelt das gesamte Spektrum der tatsächlichen Aktionen von Staatsführung und SED wider. Auch Reformkräfte fanden Beachtung. Die Anzahl der Artikel belegt, daß die Autoren der TAZ sich eingehend mit dieser Thematik beschäftigt haben. Die Darstellung änderte sich dabei im Laufe der Zeit, so fielen fast alle Einträge der Kategorie "Härte / Keine Reformen" in die Amtszeit Honeckers.

Die Berichterstattung über die Stimmungslage in der Bevölkerung und die Oppositionsgruppen deckte ebenfalls das komplette vorhandene Spektrum ab, wobei der Schwerpunkt auf Massenflucht und Demonstrationen lag. Bereits an den Kategorien wird erkennbar, daß der Umschwung in der Stimmung der Bevölkerung von Resignation oder stillschweigender Akzeptanz von September bis Anfang November in Protest umgeschlagen hat. Auch wurde darauf hingewiesen, daß die Oppositionsgruppen den Sozialismus reformieren und nicht abschaffen wollten. Insoweit entsprach die Darstellung also den Tatsachen.

Aus der Spalte "Prognosen" ergibt sich ein ambivalentes Bild: Einerseits zogen die Verfasser der Artikel den Schluß, daß ohne Reformen die SED zwangsläufig in Schwierigkeiten geraten müsse, andererseits stellten sie fest, daß ohne die sozialistische Ideologie die DDR keine Existenzberechtigung mehr hätte. Es verwundert daher nicht, daß selbst in der linken TAZ über Mauerfall und Wiedervereinigung spekuliert wurde. Insgesamt fällt auf, daß Spekulationen über die Zukunft der DDR bzw. Deutschland als ganzes nur sehr wenig Raum eingenommen haben.

4.2.3. Die ZEIT

Im Gegensatz zu den beiden anderen Zeitungen wurde bei der ZEIT die Ausgabe vom 10. November noch zum Abschnitt vor dem Mauerfall gerechnet, weil diese noch keine Darstellungen über die Grenzöffnungen enthielt. Wahrscheinlich liefen zum Zeitpunkt der öffnung der Grenzübergänge bereits längst die Druckmaschinen. Dies war zwar wohl auch bei WELT und TAZ der Fall, nur konnten die Tageszeitungen bereits am 11. November die Berichterstattung "nachholen", weshalb dort die Verzerrung für die Analyse vernachlässigbar ist.

Nach der Lektüre der kopierten Artikel verblieben 67 Beiträge, welche in die Analyse einflossen. Die vergleichsweise geringe Anzahl ist zum Großteil allein dadurch erklärbar, daß die ZEIT nur wöchentlich erscheint.

Tabelle 8: Tendenz der Berichterstattung über die DDR in der ZEIT von September bis 10. November 1989
Wirtschaft vorhandene Institutionen
(SED, Blockparteien, etc.)
Opposition und Bevölkerung Prognosen
Mißwirtschaft, Versorgungsknappheit und Ruin

17

Härte / Keine Reformen

24

Resignation oder mehr oder weniger positive Akzeptanz

4

Nur tiefgreifende Reformen können die SED retten

9

Flüchtlinge reißen Lücken

11

Rat- und Hilflosigkeit

11

Sozialismus wird explizit nicht in Frage gestellt

9

DDR verliert ohne Sozialismus Existenzberechtigung

1

Umweltproblematik

3

vorsichtige Reformen und Veränderungen

19

Massenflucht und Botschaftsbesetzungen

29

Vereinigung Deutschlands / Mauerfall

1

Zweifel an den Wirtschaftsdaten der DDR / Hinweis auf Devisenknappheit

2

weitreichende Reformen und Veränderungen

6

Demonstrationen

31

Wiedervereinigung in ferner Zukunft

4

Eindeutig Annahme "offizieller" Schuldenstand

1

Reformer innerhalb vorhandener Institutionen

13

Forderungen und Darstellung von Oppositionsgruppen (ohne Demos)

15

Wirtschaftliche Situation im RGW-Vergleich gut

2

Forderungen / Unmut in der Bevölkerung(ohne Demos)

22

Im Vergleich zum Abschnitt von Januar bis September befaßten sich die Autoren auf den ersten Blick insgesamt deutlich eingehender mit der DDR. Es wurden mehr als doppelt so viele entsprechende Inhalte in einem fast viermal kürzeren Zeitraum entdeckt.

Die ambivalente, aber tendenziell negative Darstellung der Wirtschaftslage veränderte sich ebensowenig, wie das geringe Augenmerk auf sie. Im Vergleich zur TAZ wurde diesem Bereich, gemessen an der Gesamtzahl der erfaßten Inhalte, allerdings schon deutlich mehr Beachtung entgegen gebracht. Dabei bildeten allgemeine Darstellungen des Ruins und der Flüchtlingsproblematik das Gros der Inhalte, auf die Umweltsituation wurde weniger als in der TAZ eingegangen.

Im Vergleich mit dem Zeitraum bis Ende August schien die Politik der Staatsführung nach den Zahlen noch reformfeindlicher geworden zu sein. Korrekter ist aber wohl die Interpretation, daß durch die zunehmenden Demonstrationen die SED einfach mehr Anlässe hatte, ihre harte Haltung gegenüber Oppositionellen unter Beweis zu stellen. Tatsächlich machen Darstellungen von übergriffen durch Sicherheitskräfte und Verhaftungen bei Demonstrationen einen Großteil der Einträge in der entsprechende Zelle von Tabelle 8 aus. Dabei vermittelte die ZEIT bezüglich der alten Institutionen insgesamt ein ähnliches Bild wie die TAZ. Es wurde lediglich im Verhältnis stärker auf die "Rat- und Hilflosigkeit" der SED-Spitze und etwas weniger auf vorsichtige Reformen hingewiesen. Außerdem ist ein prinzipieller Trend zu vermehrter Berichterstattung über oppositionelle Kräfte innerhalb der alten Institutionen zu erkennen.

Die Stimmung in der Bevölkerung ist nicht direkt mit dem ersten Untersuchungsabschnitt vergleichbar, weil Resignation bis August "negativ", danach aber "positiv" als nicht aktiv gegen das herrschende System gerichtet eingeordnet wurde. Daß sich ein Umschwung ergeben hatte wird aber schon durch die vielen Artikel, die sich mit Demonstrationen und der Verärgerung in der Bevölkerung befaßten deutlich. Die Verteilung der Kernaussagen über Bevölkerung und Oppositionsgruppen war in ZEIT und TAZ ebenfalls ähnlich. Es fällt erstens lediglich auf, daß häufiger darauf hingewiesen wurde, daß das Ziel der Oppositionsbewegung die Reform und nicht die Abschaffung des Sozialismus sei. Unter Umständen ist dies schlicht darauf zurückzuführen, daß für die Autoren der TAZ dieser Sachverhalt eine Selbstverständlichkeit darstellte und deshalb nicht vermehrt betont werden mußte. Zweitens wurde in der ZEIT mehr auf die Stimmung außerhalb der Demonstrationen eingegangen. Massenkundgebungen standen offensichtlich in der ZEIT weniger im Mittelpunkt als in der TAZ.

Bei den Prognosen in der ZEIT fallen vor allem die häufigen Warnungen ins Auge, daß Reformen dringend notwendig wären. überlegungen über ein vereinigtes Deutschland spielten aber auch hier kaum eine Rolle.

4.2.4. Die WELT

Wie bereits in der Einleitung erläutert, waren vorselektierte Artikel des Dokumentations- und Datenbankzentrum der Universität Mannheim Grundlage der Analyse. Entsprechend mußten nur wenige Beiträge wegen Irrelevanz aussortiert werden und es verlieben 69 Artikel. Im Vergleich mit der TAZ ist zu berücksichtigen, daß die Stichprobengröße durch die Vorselektion wahrscheinlich systematisch verkleinert wurde. Es wäre also nicht korrekt, allein aus der geringen Anzahl der berücksichtigten Beiträge auch auf ein prinzipiell geringeres Interesse an den Vorgängen in der DDR zu schließen.

Tabelle 9: Tendenz der Berichterstattung über die DDR in der WELT von September bis 9. November 1989
Wirtschaft vorhandene Institutionen
(SED, Blockparteien, etc.)
Opposition und Bevölkerung Prognosen
Mißwirtschaft, Versorgungsknappheit und Ruin

6

Härte / Keine Reformen

16

Resignation oder mehr oder weniger positive Akzeptanz

4

Tiefgreifende Reformen führen zum Ende der DDR

2

Flüchtlinge reißen Lücken

3

Rat- und Hilflosigkeit

9

Sozialismus wird explizit nicht in Frage gestellt

1

DDR verliert ohne Sozialis- mus Existenzberechtigung

4

DDR zehrt von ihren Devisenrücklagen

1

vorsichtige Reformen und Veränderungen

12

Massenflucht und Botschaftsbesetzungen

29

Vereinigung Deutschlands / Mauerfall

11

Beim Export alles bestens

1

weitreichende Reformen und Veränderungen

9

Demonstrationen

23

DDR wird sich ändern, weil die Menschen es wollen

1

Reformer innerhalb vorhandener Institutionen

7

Forderungen und Darstellung von Oppositionsgruppen (ohne Demos)

7

Sozialistische Wirtschaftsreformen müssen zwangsläufig scheitern

1

Forderungen / Unmut in der Bevölkerung (ohne Demos)

16

Was die wirtschaftliche Situation in der DDR betrifft, zeigte sich auch bei der WELT das schon bekannte Bild: sie wurde im Verhältnis nur sehr wenig thematisiert. Als einzig gravierender Unterschied zu TAZ und ZEIT fällt auf, daß die Umweltproblematik überhaupt kein Thema war.

Bezüglich des Verhältnisses der Aussagen über die SED-Führung unterschied sich die WELT kaum von der ZEIT. Lediglich Aussagen über Reformkräfte innerhalb der Staatsführung waren vergleichsweise rar.

Was die Stimmung in Bevölkerung und Opposition angeht, fanden sich deutliche Unterschiede zu beiden anderen Zeitungen. Zwar wurden auch in der WELT Menschen dargestellt, die resigniert hatten, aber keine, die das alte System gut hießen, soviel sei von der detaillierteren Betrachtung vorweggenommen. Aussagen, nach denen der Sozialismus in der DDR keinesfalls in Frage stehen würde, fehlten fast vollständig, auf Oppositionsgruppen wurde vergleichsweise wenig eingegangen. Umgekehrt wurde im Verhältnis noch häufiger als in der ZEIT auf eine allgemeine Unmut- und Protesthaltung hingewiesen. Alle anderen Unter- schiede waren gering und unter Umständen allein schon auf die unterschiedliche Stichprobenziehung zurückzuführen.

Bei den Prognosen ergab sich ein völlig von der Darstellung in TAZ und WELT abweichendes Bild, was sich bereits an der Bezeichnung der Kategorien widerspiegelt. Tiefgreifende Reformen wirtschaftlicher wie politischer Natur bedeuteten nach der WELT das Ende für die SED, bzw. der DDR als Staatswesen. Zusammen mit dem Hinweis, daß auf Basis des Sozialismus alle wirtschaftlichen Reformen zum Scheitern verurteilt wären, verwundert auch die hohe Anzahl von Prognosen der Wiedervereinigung Deutschlands nicht.

4.3. Detailliertere Betrachtung - Wurden relevante Sachverhalte korrekt wahrgenommen?

4.3.1. Wirtschaft: Ambivalente Darstellung

Bei der Betrachtung aller drei Zeitungen fällt der Widerspruch zwischen allgemeinen Wirtschaftsanalysen, sowie Vor-Ort-Berichten und der Wiedergabe offizieller DDR-Wirtschaftsdaten auf. Insgesamt ergibt sich daher ein ambivalentes Bild.

Die tatsächlichen systembedingten Schwächen wurden in der TAZ und der ZEIT relativ detailliert dargelegt, wobei das Hauptaugenmerk auf der mangelnden Exportfähigkeit bei gleichzeitig starkem Bedarf an Devisen lag. Die TAZ wies darauf hin, daß die miserable Situation sich aus strategischen Fehlentscheidungen im Politbüro ergeben hatte: "1976 trat Mittag wieder in seine alte Machtposition ein und begann mit einer hemmungslosen Zentralisierungswelle. Großbetriebe wurden zu Kombinaten und die wieder zu sozialistischen Monopolen mit eigenen Ministerien verschachtelt. Die Zentralisierung traf die DDR-Wirtschaft im ungünstigsten Moment. Es hatte sich weltweit eine Innovationssituation vorbereitet, die mit einen Schlag die DDR-Produktion für den Export entwertete. [...] Die Entscheidung für die Braunkohle zudem, die die DDR nach dem ölschock autark machen sollte, hat dazu geführt, daß die DDR mehr Devisen in die Entschwefelung stecken muß, als überhaupt an Investi- tionsmitteln für die gesamte Energiewirtschaft zu Verfügung steht. Mittags 'Erfolg' in einem Satz: die DDR-Wirtschaft muß 20 DDR-Mark ausgeben, um 1 Mark an harter Währung zu erwirtschaften." (Hartung in TAZ Nr. 2941 vom 20.10.1989, S. 2) Damit war gleichzeitig die Umweltproblematik angesprochen. In einem anderen Artikel wurden Mißstände, die Direk-toren und Wissenschaftler erhoben, thematisiert. Genannt wurden die Leistungsfeindlichkeit des Systems, die uneffektive Nutzung der wenigen Devisen und die Subventionspolitik (TAZ Nr. 2952 vom 2.11.1989, S. 9)

In der ZEIT wiederholte Harry Maier im Prinzip seine bereits im März dargestellte Analyse. Als Stichpunkte seinen nochmals die unwirtschaftlichen Kombinate, die nicht in der Lage waren vorgegebene Innovationen tatsächlich umzusetzen, unrentable Prestigeobjekte wie die Mikroelektronik sowie die Schönrechnerei von Geschäftszahlen genannt. (Maier in ZEIT Nr. 44 vom 27.10.1989, S. 29f.) In anderen Artikeln der ZEIT wurde dieses Gesamtbild bestätigt. So meinte beispielsweise Piper: "Das wirkliche Problem ist nicht Mangel an Devisen oder an westlichem Know-how, es ist das System selbst. [...] Je mehr produziert wird, desto größer wird der Mangel." (Piper in ZEIT Nr. 36 vom 1.9.1989, S. 18)

In der WELT wurde ausgeführt: "Das bisherige starre, zentrale Wirtschaftssystem der DDR ist nach Meinung des Wirtschaftsministeriums den Anforderungen einer hochtechnisierten arbeitsteiligen Wirtschaft immer weniger gewachsen." Der im Vergleich mit der Bundesrepublik niedrige Anteil an Abiturienten wurde als Ursache für mangelhafte Innovationsfähigkeit genannt. (Mahnke in WELT Nr. 249 vom 25.10.1989) In einem anderen Artikel wurde entsprechend darauf hingewiesen, daß die DDR tatsächlich kaum wettbewerbsfähige Produkte herstellte. (Mahnke in WELT Nr. 245 vom 20.10.1989) Ein Autor hielt sich in seiner Wortwahl nicht zurück und stellte fest, "daß eben nach aller historischen Erfahrung Sklavengesellschaften wirtschaftlich und technologisch nicht funktionieren, selbst wenn man sich an der moralischen Seite nicht stößt." (Loewenstern in WELT Nr. 235 vom 9.10.1989)

Auch die Folgen der Planwirtschaft wurden in allen Zeitungen thematisiert. In der ZEIT wurde auf den Ruin der Städte und Produktionsanlagen hingewiesen, der durch die zu geringe Investitionsquote erklärt wurde. (Menge in ZEIT Nr. 44 vom 27.10.1989, S. 2; Steinmayr in ZEIT Nr. 41 vom 6.10.1989, S. 3 f.) Nawrocki wies auf das Fehlen von Medikamenten, sowie lange Wartezeiten für Operationen hin. (Nawrocki in ZEIT Nr. 40 vom 29.9.1989, S. 1) Die WELT zeichnete die selben Folgen der "Sklavengesellschaft". Erwähnt wurde die heruntergewirtschaftete Infrastruktur, der Verfall der Städte, sowie die Umweltzerstörung. (Kahl in WELT Nr. 239 vom 13.10.1989). Außerdem wurde dargelegt, daß in der DDR nur noch durch Schattenwirtschaft bestimmte Artikel zu erwerben seien. (Berg in WELT Nr. 231 vom 4.10.1989) Ein Beispiel aus der TAZ verdeutlichte die unsinnige Ressourcennutzung. Dort beklagte ein Gewerkschaftler, daß fertige Marmelade wieder aus Gläsern gekratzt und zu Schweinefutter verarbeitet wurde - offenbar um irgendeinem Plan genüge zu tun. (TAZ Nr. 2956 vom 7.11.1989 S. 2) Dem standen nur wenige Aussagen gegenüber, die das negative Gesamtbild etwas relativierten. Ein Beispiel stellt die wiedergegebene Meinung eines Bürgers, der behauptete, daß die Versorgungslage gar nicht so dramatisch sei, dar. (Steinmayr in ZEIT Nr. 41 vom 6.10.1989, S. 3f.) Ein anderes die Feststellung des britischen Heraus- geber Robert Maxwells: "Die Wirtschaft steht nicht am Rande des Ruins." (Maxwell in ZEIT Nr. 42 vom 13.10.1989, S. 52)

Der Flüchtlingsstrom wirkte nach Darstellung aller Zeitungen verheerend auf die ohnehin schon desolate wirtschaftliche Situation. Er setzte sich in erster Linie aus 20 bis 40jährigen Personen zusammen, wobei produzierende und Dienstleistungsberufsgruppen überrepräsentiert waren. Damit wurde die Schräglage in Richtung überbürokratisierung weiter verschärft. Wegen Personalmangels stockte die Produktion in manchen Betrieben, und Geschäfte mußten früher schließen. (Köhler in ZEIT Nr. 42. vom 13.10.1989, S. 2; Nawrocki in ZEIT Nr. 45 vom 3.11.1989, S. 25 f.; WELT Nr. 249 vom 25.10.1989) Selbst wenn genug Arbeitskräfte vorhanden waren, konnten ausbleibende Materiallieferungen aus anderen Betrieben die Fertigung zum Erliegen bringen. (Berg in WELT Nr. 231 vom 4.10.1989) Im Gesundheitswesen fehlten ärzte und Schwestern, die Situation für kranke Menschen wurde lebensbedrohlich, weil sie zum Teil nicht mehr behandelt werden konnten. (Menge in ZEIT Nr. 44 vom 27.10.1989, S. 2) In der WELT wurde darauf hingewiesen, daß einige Kliniken komplett schließen mußten, (Mahnke in WELT Nr. 249 vom 25.10.1989, S. 5) in der TAZ bemerkt, daß Leistungen im Versorgungs- und Dienstleistungsbereich, sowie in der Produktion vielfach zurückgeschraubt werden mußten. (TAZ Nr. 2949 vom 30.10.1989, S. 5)

Was die Schulden- und Devisensituation angeht, lagen alle Zeitungen falsch. überall finden sich Belege, daß von geschönten offiziellen DDR-Zahlen ausgegangen wurde.(24) Dies mußte zwangsläufig zu einer übermäßig positiven Darstellung führen: In der ZEIT wunderte sich Nawrocki zwar darüber, daß die DDR nach ihrer Statistik doppelt so viel in den Westen exportiere, als nach der entsprechenden OECD-Statistik. Schlüsse zog er daraus aber nicht. Er betonte vielmehr, daß die DDR jährlich Milliarden aus der Bundesrepublik erhalte und dies die im RGW-Vergleich gute wirtschaftliche Gesamtlage zumindest teilweise erkläre. (Nawrocki in ZEIT Nr. 38 vom 15.9.1989, S. 25 f.) Nach Angaben von Heinz Schimmelbusch, damals Vorstandsvorsitzender der Metallgesellschaft AG erzielte die DDR sogar insgesamt einen Exportüberschuß und befand "sich in einem bemerkenswert stabilen Zustand im Vergleich zu den Nachbarländern im Comecon." (WELT Nr. 234 vom 7./8. 10.1989). Immerhin gaben einige Autoren in ZEIT und TAZ zu bedenken, daß die Verschuldungssituation der DDR zwar nicht dramatisch sei, sie aber dennoch unter einer chronischen Devisenknappheit leide. Eine Befriedigung der Devisenbedürfnisse der Bevölkerung für etwaige Westreisen müßte demnach zwangsläufig entweder auf Kosten der Betriebe oder durch Schwarzmarkttausch der Bevölkerung selbst erfolgen. (Kulke in TAZ Nr. 2952 vom 2.11.1989 S. 3; Piper in ZEIT Nr. 45 vom 3.11.1989, S. 27)

4.3.2. Der Staatsapparat: Zwischen Zerfall und Machterhalt

Eine detaillierte Darstellung der Vorgänge bei Demonstrationen und des Verhaltens der Staatsmacht würde den vorgegebenen Umfang dieser Arbeit hoffnungslos sprengen. So soll der Hinweis genügen, daß alle Zeitungen ausführlich über die Massenkundgebungen und das harte Vorgehen der Sicherheitskräfte berichteten. Dies ging ja bereits aus der quantitativen Darstellung hervor. Um die Berichterstattung in den Zeitungen mit den nachträglichen Erkenntnissen zu vergleichen, genügt meineserachtens die Beantwortung einiger Fragen anhand der zugrundeliegenden Quellen: Für die WELT kann dies bestätigt werden. Beispielsweise wurde Ende September die Auffassung des damaligen SPD-Vositzenden Hans-Joachim Vogel wiedergegeben. Demnach verweigerte die DDR-Führung die notwendigen Reformen, und war außerdem weder zum Dialog, noch zu einer Analyse ihrer Lage fähig. (Schwehn in WELT Nr. 219 vom 20.9.1989) Wolfgang Seiffert stellte am 2. Oktober fest, daß in der SED-Führung "keine Vorstellung vorhanden ist, was man tun kann außerhalb von Drohung und Gewalt - die offensichtlich nicht mehr verfangen." (Seiffert in WELT Nr. 229 vom 2.10.1989) und brachte somit die Hilflosigkeit der Staatsführung zum Ausdruck. Auch noch in der Wochenendausgabe vom 7./8. Oktober sah Hans Karutz noch kein Anzeichen für einen Dialog der SED-Führung mit der Bevölkerung. (Karutz in WELT Nr. 234 vom 7./8.10.1989) Die Verständigung auf Bürgermeister- bzw. SED-Bezirksebene unter Führung des Gewandhaus-Chefs Kurt Masur auf einen Verzicht von Gewalt bei den Leipziger Demonstrationen findet sich ebenfalls wieder. Im gleichen Artikel wurde erstmals auf Ansätze von kritischer Berichterstattung in DDR- Medien hingewiesen. (WELT Nr. 237 vom 11.10.1989)

In der ZEIT konnte man dagegen am 1. September die Meinung Egon Bahrs nachlesen, daß es in der DDR bereits Reformen gegeben hätte. "Aber diese Veränderungen werden Teils von den Menschen nicht mehr wahrgenommen; teils reichen sie nicht mehr." (Sommer in ZEIT Nr. 36 vom 1.9.1989, S. 6) Dennoch kann man auch hier davon sprechen, daß der prinzipielle Unwille der SED-Führung zu weiteren Reformen wahrgenommen wurde. So schrieb Kaiser eine Woche später: "Die Regenten im anderen deutschen Staat, von dem Exodus [der Bevölkerung] überrascht und peinlich berührt, flüchten sich erst recht in jenen Trotz, der uns schon vertraut ist, seit sie sich mit Perestrojka und Glasnost konfrontiert sehen: Keine Abstriche von ihrem Sozialismus, nun schon gar nicht." (Bertram in ZEIT Nr. 37 vom 8.9.1989, S. 1) Auch das neue Jugendmagazin "elf99" wurde als Sendung alten Stils mit West-Videos entlarvt: "Aber, ach. Sobald die Nachrichtensprecherin den Mund öffnet, laufen [...] plumpe Lügen und plumpe Propaganda." (Klein in ZEIT vom 19.9.1989, S. 80) Die Hilflosigkeit der Staats- und Parteiführung spiegelte sich beispielsweise in der Aussage: "Jetzt steckt sie in einer Lage, in der so ziemlich alles, was sie noch tun kann, falsch ist." (Nawrocki in ZEIT Nr. 40 vom 29.9.1989, S. 1) wider. Ein DDR-Bürger wurde mit den Worten zitiert: "Lassen sie die Grenze nach Ungarn offen, laufen weiter tausende weg; machen sie sie zu, wird der Druck im Innern übergroß." (Nawrocki in ZEIT Nr. 40 vom 29.9.1989, S. 1) Es fehlt zwar ein Hinweis auf die Vorgänge in Leipzig vom 9. Oktober, aber auch nach der ZEIT begann das Tauwetter zu diesem Zeitpunkt. Hier wurde die Demonstration in Dresden als Beispiel herangezogen. Es wurde von Polizisten berichtet, die Einkesselungen einstellten, nachdem der Bürgermeister erklärt hatte, er wolle mit den Demonstranten reden. (Menge in ZEIT Nr. 42 vom 13.10.1989, S. 2)

Bei der TAZ muß notgedrungen doch am Rande auf die Demonstrationen eingegangen werden, weil dieselben dort fast ausschließlich als Gradmesser für die Situation an der Staatsspitze herangezogen wurden. Am 20.9. stellte Rasmussen fest "Es sieht so aus, als wollten Partei und Staat es in Leipzig auf eine Kraftprobe mit den Oppositionellen ankommen lassen." Michael Arnold vom "Neuen Forum" meinte dazu in einem Interview: "Es gibt eine gewisse Konzeptlosigkeit, und man muß bedenken, daß die Partei- und Staatsführung über eine lange Zeit innenpolitisch das Monopol hatte und allein bestimmen konnte, wie gesellschaftliche Probleme zu behandeln seien." (Rasmussen in TAZ Nr. 2915 vom 20.9.1989, S. 6) Nach der TAZ begann das Umdenken bei den lokalen Leipziger Einsatzkräften schon mit der Demonstration vom 25. September: "Anders als in den vergangenen Wochen verhielt sich die Polizei 'absolut deeskalierend'". (Rasmussen in TAZ Nr. 2921 vom 27.9.1989, S. 1) An der grundsätzlich harten Haltung der Staatsführung ließ sie dennoch keinen Zweifel auf- kommen: Anläßlich der Demonstration vom 2. Oktober führte Holstein aus: "Nichts hatte der Apparat in den letzten Tagen unversucht gelassen, die Bevölkerung von der Straße fernzuhalten. [...] Die wildesten Gerüchte schwirrten durch die Stadt, einige vermutlich von den Genossen gestreut. Da war die Rede vom bevorstehenden Einsatz herbeigeorderter Hubschrauberstaffeln, Panzerwagen und Wasserwerfer." (Holstein in TAZ Nr. 2927 vom 4.10.1989, S. 3) Der relativen Zurückhaltung in Leipzig stand außerdem die Schilderung der Ereignisse im Umfeld der 40-Jahr-Feiern in Berlin gegenüber: "Eine bisher nicht zu ermittelnde Zahl von Demonstranten und Passanten wird wahllos verprügelt, verhaftet und in die umliegenden Gefängnisse verfrachtet." (Geis & Bornhöft in TAZ Nr. 2931 vom 9.10.1989, S. 2) Bei der Berichterstattung aus Leipzig am 9. Oktober wurden das schon mehrfach erwähnte Dialogpapier und die Gewaltlosigkeit bei den Demonstrationen in Leipzig und Dresden angesprochen. Außerdem stellte Marx fest: "Als sich in Leipzig gegen 21 Uhr die bisher größte Demonstration auflöst, ist in den DDR-Medien von Dialog keine Spur. Wenn die Demonstranten dann bei ihrer Ankunft zuhause den Fernseher angeschaltet haben, konnten sie in der 'Aktuellen Kamera' erfahren, was sie in der real-sozialistischen Wahrheitsfindung immer noch sind: 'anti-sozialistische Störer' und 'vom Westen ferngesteuerte Randalierer'." (Marx in TAZ Nr. 2933 vom 11.10.1989, S.7) Besonders in den Artikeln der TAZ läßt sich also die von den Vorgaben des Politbüros abgekoppelte Entwicklung in der Provinz erkennen.(25)

Als Zwischenresümee bleibt festzuhalten, daß alle drei Zeitungen im Prinzip die reformfeindliche Haltung der SED-Führung unter Honecker, sowie die Wende in Leipzig vom 9. Oktober korrekt wiedergegeben haben.

Diese Frage kann positiv beantwortet werden. Als Beleg dafür einige Zitate:

Am 27.10. stellte Nawrocki in der ZEIT fest: "Fast scheint es, als solle die DDR unter dem vehement aufgebrochenen Druck von unten in Monaten nachholen, was in Polen zehn Jahre, in der Sowjetunion fünf Jahre und in Ungarn zwei Jahre gebraucht hat." (Nawrocki in ZEIT Nr. 44 vom 27.10.1989, S. 3) Eine Woche später wurde klargestellt: "Natürlich läßt sich die SED auf alle Zugeständnisse nur ein, um ihre Macht, so gut es eben geht, zu wahren." (Leicht in ZEIT Nr. 45 vom 3.11.1989, S. 1)

Die WELT stellte klar: "[Krenz] hat eingeräumt, daß man Fehler gemacht habe und 'Rückhaltlos' darüber reden müsse. Er verspricht sogar Reiseerleichterungen. [...] Andererseits versichert er, daß es beim Sozialismus, bei der Führungsrolle der SED und ihrem Staat bleiben müsse." (Loewenstern in WELT Nr. 245 vom 20.10.1989)

Die TAZ resümierte nach der Antrittsrede von Krenz, daß "die uneingeschränkte Führungsrolle der Partei, ihre Anmaßung, für die ganze Gesellschaft zu sprechen, ihre Weigerung, andere als die von ihr dominierten gesellschaftlichen Organisationen an der künftigen Politik zu beteiligen" Grundprinzip der Politik bleiben sollte. (Geis in TAZ Nr. 2941 vom 20.10.1989, S. 3)

Diese Frage wurde eigentlich schon durch die quantitative Darstellung positiv beantwortet. Hier soll lediglich noch ermittelt werden, ab welchem Zeitpunkt die Spannungen erkannt wurden.

In einem Interview mit Hans-Jochen Vogel wies dieser am 18.9. darauf hin, daß alles auf einen "kontroversen Meinungsbildungsprozeß an der SED-Spitze" hindeute. (Karutz in WELT Nr. 217 vom 18.9.1989). Am 20. September erwähnte die WELT erstmals unzufriedene CDU-Mitglieder. (WELT Nr. 219 vom 20.9.1989) Mit Manfred Gerlach, Vertreter von Erich Honecker als Staatsratsvorsitzender, kam erstmals am 6. Oktober ein Spitzenmann der Blockparteien zu Wort. Seine Aussagen, die "ebenso vom 'Neuen Forum' stammen könnten", veranlaßten Karutz zu dem Schluß, "daß er und die LDPD-Spitze sich auf die berühmte 'Zeit danach' einrichten, wenn die alte Garde des Politbüros abtritt." (Karutz in WELT Nr. 233 vom 6.10.1989)

Die ZEIT wies bereits am 1. September darauf hin, daß die Basis der SED wütend über die Führung geworden sei. (Menge in ZEIT Nr. 36 vom 1.9.1989, S. 4) Am 6. Oktober wurde ein Artikel dem als Reformer geltenden SED-Bezirkssekretär Hans Modrow gewidmet. "Er erweckte den Eindruck, als sei er über das Stadium des Nachdenkens [über Reformen] hinaus." (Spoerl in ZEIT Nr. 41 vom 6.10.1989, S. 8) Auch in der Zeit stach besonders Manfred Gerlach hervor. Beispielsweise wurde aus seiner Rede zum hundertsten Geburtstag von Carl von Ossietzky auf Veränderungswillen geschlossen. (Menge in ZEIT Nr. 41. vom 6.10.1989 S. 9)

Gleiches gilt für die TAZ: "Als erster prominenter Politiker der DDR hat sich der stellvertretende Staatsratsvorsitzende und Vorsitzende der Liberaldemokratischen Partei, Manfred Gerlach, vorsichtig für Reformen ausgesprochen. In einer Ansprache, die von der Parteizeitung 'Der Morgen' abgedruckt, vom SED-Zentralorgan 'Neues Deutschland` aber ignoriert wurde, sprach er sich dafür aus, 'Neues nicht zu blockieren, sondern aufzuspüren und auf den Weg zu bringen'." (TAZ Nr. 2916 vom 21.9.1989 S. 1f.)

Alle drei Zeitungen erkannten also noch vor dem Umschwenken der obersten Staatsführung in Richtung Dialogbereitschaft die aufkommende Opposition innerhalb der vorhandenen Institutionen.

4.3.3. Bevölkerung und Oppositionsgruppen

Auch an dieser Stelle kann der Ablauf der Ereignisse, wie er sich in den Zeitungen darstellte, nicht detailliert wiedergegeben werden. Statt dessen soll wieder einigen Kernfragen nachgegangen werden. Zwahr stellte fest, daß die bundesrepublikanischen Medien die erste geschlossene Leipziger Montagsdemonstration am 25. September "verschlafen" hatten. (Zwahr 1993: 23) Wahrscheinlich bezieht er sich primär auf das Medium Fernsehen, denn hinsichtlich der hier zugrundeliegenden Zeitungen läßt sich dieser allgemeine Vorwurf nur bedingt halten.

In der TAZ wurde bereits der erste Demonstrationsversuch in Leipzig ausführlich dargestellt. Insbesondere wurde auf die tiefe Spaltung zwischen Ausreisewilligen und Personen, die in der DDR bleiben wollten, hingewiesen. "Bereits nach wenigen Metern blieb am Montag abend in Leipzig eine Demonstration für Reformen in der DDR stecken. Die Mehrheit der auf dem Kirchplatz der Nikolaikirche versammelten mehreren hundert Menschen zog es nämlich vor, ihr Anliegen in die Fernsehkameras zu rufen: 'Nehmt uns mit in die Bundesrepublik!' Eine Minderheit der Demonstranten überließ den Ausreisewilligen den Auftritt vor der Kirche und diskutierte am späten Abend in einer anderen Kirche über 'Thesen zur Erneuerung der Gesellschaft'." (Bornhöft in TAZ Nr. 2903 vom 6.9.1989, S. 3) Am 27. September wurde über die Demonstration in Leipzig zwei Tage zuvor berichtet. Berücksichtigt man, daß diese Demonstration am Abend statt fand, war wohl nur der Redaktionsschluß die Ursache dafür, daß sie nicht bereits am 26. September Erwähnung fand. Insofern muß man den Vorwurfs Zwahrs, was die TAZ angeht, zurückweisen. "Zur größten Demonstration in der DDR seit dem 17. Juni 1953 wurde am Montag abend der Marsch durch die Leipziger Innenstadt: Mehrere tausend Menschen schätzungsweise zwischen 5- und 8.000 Personen - beteiligten sich nach dem traditionellen Friedensgebet in der Nikolaikirche an der spontanen Manifestation für politische Reformen und die Legalisierung des Neuen Forums. Erstmals waren die Ausreisewilligen bei einer Demonstration in Leipzig 'eine verschwindende Minderheit', erklärte Pfarrer Christoph Wonneberger." (Rasmussen in TAZ Nr. 2921 vom 27.9.1989, S. 1) Die TAZ hat also auch korrekt dargestellt, daß nun nicht mehr die Ausreisewilligen die Hauptinitiatoren des öffentlichen Protestes waren.

In der ZEIT wurden am 15. September erstmals die Demonstrationen am Alexanderplatz zum Gedenken an die Kommunalwahlfälschung erwähnt. Im gleichen Artikel wurde festgestellt: "[I]n Leipzig überwogen jene, die sich für Veränderungen in der DDR einsetzten." (Menge in ZEIT Nr. 38 vom 15.9.1989, S. 2) Auch hier wurde also das Protestpotential Bleibewilliger relativ früh erkannt. Außerdem muß Zwahrs Vorwurf tendenziell abgelehnt werden, denn am 29. September stand in der Wochenzeitung ZEIT: "[...] Wut und Schmerz haben die Angst vertrieben. Rund 8000 Menschen Demonstrierten am Montag abend in Leipzig für Meinungs- und Versammlungsfreiheit." (Carlsson et al. in ZEIT Nr. 40 vom 29.9.1989, S. 17)

In der hier zugrunde liegenden Stichprobe der WELT wurden Demonstrationen dagegen erst ab Anfang Oktober 1989 erwähnt. (Dose & Karutz in WELT Nr. 231 vom 4.10.1989) Seitdem wurde immer wieder auf Massendemonstrationen hingewiesen, wie z.B. am 9. Oktober: "'Wir bleiben hier!' haben Demonstranten in Ost-Berlin, Leipzig und anderswo in der DDR in den vergangenen Tagen immer wieder fast drohend gerufen." (Conrad in WELT Nr. 235 vom 9.10.1989, S. 3) Vorher hatten ausschließlich Berichte über die Massenflucht die Darstellung der WELT geprägt. Unter dem Vorbehalt, daß unter Umständen nicht alle relevanten Artikel vorlagen, hat demnach die WELT tatsächlich den Anfang der Demonstrationen für Reformen in der DDR "verschlafen".

"Die vielen, die das Land verlassen, verstärken die Ungeduld der Bleibenden. Sie wollen ihr Bleiben mit 'Einmischung' verbinden. Noch treffen sie sich vor allem in Kirchen. So schlug neulich in der ostberliner Golgathakirche eine Gruppe vor, eine sozialdemokratische Partei zu gründen. Anderen ist das zu eng, [...] die kürzlich [...] für eine breite Sammelbewegung in der DDR plädierten." (Menge in ZEIT Nr. 36 vom 1.9.1989, S. 4). Die Initialzündung des Protests durch die Ausreisewilligen wurde also in der ZEIT erkannt. In der TAZ wurde sogar von Menschen in Ungarn berichtet, die ihre Fluchtgedanken aufgegeben haben: "Wenn ich nach Hause komme, werde ich mich engagieren. Vielleicht wird es doch noch was mit der Reform in unserem Land." (Rathfelder in TAZ Nr. 2916 vom 21.09.1989, S. 7) Offenbar hatte Pfarrer Hans-Jochen Tschiche, Gründungsmitglied des "Neuen Forum" recht. Er äußerte eine Woche vorher in der WELT, daß Zuversicht auf Veränderungen in der DDR einen Großteil der Ausreisewilligen zum Bleiben bewegen könnte. (Karutz in WELT Nr. 214 vom 14.9.1989) Insofern kann man sogar von einer Wechselwirkung zwischen Ausreisewilligen, Demonstrationen und Oppositionsgruppen sprechen.

"Die meisten der kritischen Gruppen sehen sich durchaus nicht als bürgerlich oder gar kapitalistisch an. Sie wollen einen besseren Sozialismus und keine Wiedervereinigung." (Nawrocki in ZEIT Nr. 40 vom 29.9.1989, S. 1) "Ziel der Bewegung, so die Mitbegründerin des Neuen Forums, Bärbel Bohley, sei nicht die Einführung des Kapitalismus, sondern 'ein anderer Sozialismus als der in der DDR praktizierte'." (Rasmussen in TAZ Nr. 2919 vom 25.9.1989, S. 1) Der Großteil der Zuordnungen in der quantitativen Kategorie "Sozialismus wird explizit nicht in Frage gestellt" stammte aus ähnlichen Zitaten. Es wurde also klargestellt, daß die Oppositionsgruppen den Sozialismus reformieren, nicht abschaffen wollten. Von der WELT wurde diese Tendenz zwar nicht prinzipiell in Frage gestellt, aber nur ein einziges mal explizit erwähnt: Das "Neue Forum" "[...] strebt eindeutig nach Veränderungen innerhalb des vorgegebenen Rahmens in der DDR". (Karutz in WELT Nr. 231 vom 4.10.1989) Statt dessen wurde darauf hingewiesen, daß die "Sozialdemokratische Partei" SDP und der "Demokratische Aufbruch" den Gedanken einer möglichen Annäherung der beiden deutschen Staaten aufgegriffen hätten. (WELT Nr. 234 vom 7./8. 10.1989)

Unterschiedlich wurde in den Zeitungen die Meinung der "breiten Masse" dargestellt. Nach der WELT verhielt es sich wie folgt: "Die Mehrheit der Deutschen in der DDR [...] will keinen 'erneuerten Sozialismus', sondern sie will ganz einfach in Verhältnissen leben, wie sie die Deutschen in der Bundesrepublik genießen. (Seiffert in WELT Nr. 229 vom 2.10.1989) Entsprechend postulierte Karutz an anderer Stelle einen "tiefen Graben zwischen moralisch-intellektueller Zielsetzung des [Neuen] Forums und der tatsächlichen Stimmungslage breiter Bevölkerungskreise in der DDR." (Dose & Karutz in WELT Nr. 231 vom 4.10.1989) Am 1. November beklagte Kahl, daß es keine Gruppierung gab, die eine "am westlichen Bild orientierte Alternative entgegenstellte - die Alternative, auf die die Mehrheit offensichtlich wartet." (Kahl in WELT Nr. 255 vom 1.11.1989). Wie in der TAZ, kam auch in der WELT eine Person zu Wort, die die Möglichkeit zur Flucht nicht nutzte. Diese wurde jedoch zitiert mit den Worten: "Wenn der Kommunismus verreckt, dann will ich das drüben erleben." (Schmalz in WELT Nr. 260 vom 7.11.1989)

Nawrocki zweifelte in der ZEIT ebenfalls daran, ob die Oppositionsgruppen mit ihren Vorstellungen eines reformierten Sozialismus "der schweigenden Mehrheit aus dem Herzen sprechen". (Nawrocki in WELT Nr. 40 vom 29.9.1989, S. 1) Ein namentlich nicht genannter Emeritus wurde von Steinmayr mit den Worten zitiert: "Die [Oppositionsgruppen] sind wie seinerzeit die Apo. Sie sind mutig und doch in ihrer Intellektualität die reinsten Traumtänzer. Deshalb werden sie die Massen nie erreichen, werden immer Außenseiter bleiben." (Steinmayr in ZEIT Nr. 41 vom 6.10.1989, S. 3) Die Meinung des Wissenschaftlers, die Menschen würden "ihre Wirklichkeit wie blauen Dunst" aus dem Westfernsehen saugen, bestätigte sich in einigen Aussagen von DDR-Bürgern, so z.B. der eines Auszubildenden: "Bei uns, müssen Sie wissen, bekommt man immer nur das, was man braucht, und selten das, was man sich wünscht. Wenn ich fertig bin, dann hau' ich ab." (Steinmayr in ZEIT Nr. 41 vom 6.10.1989, S. 3) Die Menschen wünschten sich "gleiche Lebensbedingungen, ein besseres Leben, ein Auto ohne langes Warten, auch Nektarinen und Kiwis [...]." (Kaiser in ZEIT Nr. 43 vom 20.10.1989, S. 5) Im Gegensatz zur WELT kamen aber auch Stimmen zu Wort, nach denen die DDR - teilweise sogar ohne tiefgreifende Reformen - durchaus ihre positiven Aspekte gehabt hat: "Die meisten DDR-Bürger schätzen durchaus ihre subventionierte Existenz." (Maxwell in ZEIT Nr. 42 vom 13.10.1989, S. 52) Den besten Beleg dafür stellte wohl ein Artikel dar, in dem eine bereits in die Bundesrepublik geflüchtete Frau beschrieben wurde, die wieder in die DDR zurückkehrte. "'Jetzt weiß ich, daß dort mein Zuhause ist.'" (Kruse in ZEIT Nr. 46 vom 19.11.1989, S. 90) Die Darstellung in der ZEIT war also ambivalent.

Aus der TAZ ergab sich dagegen eher das Bild, daß die bleibewilligen Menschen in ihrer Mehrheit hinter den Forderungen der Oppositionsgruppen standen. "Der gescheiterte Realsozialismus hat nicht das Nichts hinterlassen. Die Herrschaft muß nicht umgestürzt werden, es genügt, die Herrschaften wegzujagen. [...] Die Massen von Ost-Berlin, von Leipzig, von Dresden, die nicht nur 'Das Volk sind wir' rufen, sondern auch so handeln, haben sich aufgemacht in eine zukünftige Gesellschaft. Daß die Resignierten, die Verbitterten jetzt noch fliehen, nein besser: wegreisen; daß die Opportunisten mitrennen, widerspricht dem nicht." (Hartung in TAZ Nr. 2955 vom 6.11.1989, S. 8) Unmut ergab sich demnach primär aus dem Wunsch, die Reformen mögen schneller voranschreiten. "Die Bevölkerung der DDR gönnt dem neuen Staats- und Parteichef Egon Krenz keine politische Schonfrist, wie es zum Teil auch aus Kreisen der Opposition gefordert wird. Unter dem Druck neuer Demonstrationen beschleunigt die SED die Arbeit an dem geplanten Reisegesetz, überwindet ihre Angst vor Straßendiskussionen und öffnet die Medien weiter der Kritik." (TAZ Nr. 2943 vom 23.10.1989, S. 1)

4.3.4. Prognosen

Nach der WELT war die Wiedervereinigung Deutschlands in greifbare Nähe gerückt. "Die historisierende These, daß dieses Land infolge einer 'Vergangenheit' seine Zukunft, die ungeteilte Freiheit der Wahl, die staatliche Einheit für immer verspielt habe, verblaßt gespenstergleich angesichts der realen Dynamik des Willens nach Veränderung." (Kremp in WELT Nr. 237 vom 11.10.1989)

Die Autoren der ZEIT gingen davon aus, daß die Deutsche Einheit erst in Jahrzehnten auf der internationalen Agenda stehen würde. Am wahrscheinlichsten schien ein Abdanken des alten Regimes und die Einleitung von Reformen: "Der andere deutsche Staat wird so schnell nicht verschwinden, aber er wird ein anderer werden." (Sommer in ZEIT Nr. 42 vom 13.10.1989, S. 1) Man veröffentlichte beispielsweise einen Artikel von Stefan Heym, in dem er durchaus positive Aussichten für die Zukunft der DDR prognostizierte. Eine frei gewählte Regierung wäre seiner Meinung nach in der Lage, die Legitimität der DDR in der Bevölkerung herzustellen. Er ging sogar so weit, daß eine erneuerte DDR eine Sogwirkung entwickeln, und zum Einwanderungsland werden könnte. (Heym in ZEIT Nr. 42 vom 13.10.1989, S. 5)

In der TAZ fanden sich Aussagen über eine bevorstehende Wiedervereinigung Deutschlands nur in unkommentierten Meldungen. "Für den nordrhein-westfälischen CDU-Vorsitzenden Norbert Blüm steht 'die Wiedervereinigung wieder auf der Tagesordnung'. Die Ereignisse in der DDR zeigten, daß die DDR-Bürger dies wünschten." (TAZ Nr. 2956 vom 7.11.1989, S. 4) Daß die TAZ-Redaktion ganz anderer Meinung war, wurde oben bereits geschrieben. Entsprechend schloß man: "Daß die Mauer fällt und die Konkursmasse DDR durch Wiedervereinigung übernommen werden könnte: Dieser westliche Traum ist zunächst einmal ausgeträumt." (Hartung in TAZ Nr. 2955 vom 6.11.1989, S. 8) Zuletzt fehlte auch nicht der Hinweis: "Die USA wünschten sowenig eine deutsche Wiedervereinigung wie die Sowjet- union." (Dutschke in TAZ Nr. 2950 vom 31.10.1989, S. 8)

Man mag sich darüber streiten, ob die Prognosen der WELT sich weniger aus einer Analyse der Situation, als vielmehr aus ihrer politischen Grundrichtung ergaben und bis zu einem gewissen Grad "propagandistisch" geprägt waren. Vor dem Fall der Mauer fanden sich in jedem Fall nur dort überwiegend Voraussagen einer baldigen Vereinigung Deutschlands. Ein Erklärungsansatz für diesen Sachverhalt wird in der Schlußbetrachtung umrissen.

 

 


zum 5. Kapitel