1. Einleitung

Forscher, Publizisten und Politiker wurden von der Implosion der DDR seit dem Herbst 1989 völlig überrascht. Wilhelm Bleek stellte noch unter dem unmittelbaren Eindruck(1) der sich überschlagenden Ereignisse selbstkritisch fest: "Außenpolitisch, gesellschaftlich und ökonomisch bedingten Wandlungsdruck auf die DDR und die SED haben wir im Westen in den letzten Jahren durchaus konstatiert, doch den Zusammenbruch der Diktatur der Einheitspartei und den folgenden Kollaps des von ihr beherrschten Staates und seiner Wirtschaft eigentlich nicht für möglich gehalten." (Bleek 1992: 54)

In dieser Arbeit soll nun die bundesdeutsche Wahrnehmung der DDR zum Zeitpunkt, bzw. im unmittelbaren Vorfeld der rapiden Umwälzungen etwas genauer betrachtet werden. Bleeks Aussage wirft dazu einige Fragen auf: Nach seiner Ansicht war der Wandlungsdruck für die DDR durchaus schon Jahre vor ihrem Ende bekannt. War die Perzeption bezüglich der Zustände in der DDR aber auch korrekt? Eine fehlerhafte Wahrnehmung der wirtschaftlichen Situation oder der Stimmung in der Bevölkerung wäre ja durchaus eine mögliche Erklärung dafür, daß der Zusammenbruch der DDR westliche Beobachter überraschte. Sofern die tatsächliche Situation in der DDR zumindest annähernd richtig erkannt wurde, drängt sich natürlich die Frage auf, ob die bekannten Fakten nicht geradezu zwingend für einen unmittelbar bevorstehenden Kollaps sprachen. Sollte dies der Fall gewesen sein, warum wurden dann nicht entsprechende Schlüsse gezogen?

Natürlich können nicht alle diese Fragen in einer Diplomarbeit abschließend geklärt werden und der Fokus muß schon aufgrund der Restriktionen, welche die Bearbeitungszeit des Themas und den Textumfang betreffen, extrem eingeschränkt werden.

Die Zeitspanne, in welche die unmittelbar für das Ende der DDR verantwortlichen Ereignisse fielen, variiert je nach Betrachtungsweise. Bahrmann und Links beispielsweise beschränkten sich in ihrer "Chronik der Wende" auf den Abschnitt zwischen 7. Oktober und 18. Dezember 1989 und stellten somit die Demonstrationen seit dem vierzigsten Jahrestag der DDR in den Vordergrund. (Bahrmann & Links 1994: 5). Eine Untersuchung ließe sich aber theoretisch fast beliebig ausdehnen. So bereitete die Friedensbewegung in den 80er Jahren für künftige Oppositionsgruppen den Boden (Wolle 1998: 280) und die politischen Weichenstellungen, welche letztendlich die DDR-Wirtschaft ruinierten, begannen bereits mit dem Sturz Ulbrichts 1971. (Haendcke-Hoppe-Arndt 1995: 121 f.) Der 3. Oktober 1990 besiegelte bekanntlich das Ende der DDR als Staat durch den Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Artikel 23. (Lehmann 1996: 417)

Meines Erachtens stellt die Phase von dem Augenblick, in der erstmals das Machtmonopol der SED öffentlich in Frage gestellt wurde, bis zum Zeitpunkt als sie dasselbe unwiderruflich verlor, einen geeigneten engeren Rahmen für die Betrachtung dar. Entsprechend reicht der primäre Untersuchungszeitraum hier von September 1989 bis Januar 1990. "Anfang September 1989, auf dem Höhepunkt der Ausreisewelle, meldete sich erstmals in der Geschichte der DDR eine politische Opposition offen zu Wort, trat aus dem sowohl schützenden als auch einengenden Bereich der Kirche heraus und bekannte sich unmißverständlich zu ihrer Rolle. An den Schwarzen Brettern vieler Gemeinden hing ein Papier mit der Überschrift »Aufbruch 89 - Neues Forum« [...]." (Wolle 1998: 310) Am 4. September brachten erstmals Menschen im Anschluß an ein Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche, die nicht aus der DDR ausreisen wollten, ihren Wunsch nach Veränderungen demonstrativ zum Ausdruck. Die Tatsache, daß dieser als Schweigemarsch geplante Vorläufer der Montagsdemonstrationen sich aufgrund der Gegensätze von Ausreise- und Bleibewilligen sehr schnell wieder auflöste, darf über dessen Sprengkraft nicht hinwegtäuschen. (Zwahr 1993: 19). Ende Januar 1990 schien die SED endgültig zum Rücktritt von ihrem Machtmonopol bereit, und der SED-Staat am Ende zu sein. Nach Glaeßner hatte sich entschieden, daß der Zusammenbruch des alten Regimes nicht mit Gewalt verhindert werden sollte, wofür Schmierereien am sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow für die entsprechenden Kreise ein letzter geeigneter Anlaß gewesen wären. (Glaeßner 1992: 25) Zwar blieb Hans Modrow von der SED Ministerpräsident, aber die oppositionellen Kräfte wurden nun in die Regierungsverantwortung genommen. (Glaeßner 1992: 25; Lehmann 1996: 385 f.)

In mindestens diesem Zeitraum sollte also nach westlichen Perzeptionsfehlern gesucht werden, die eine Ursache für falsche Schlußfolgerungen oder Prognosen sein konnten.

An diesem Punkt der Überlegungen stellt sich die Frage, welche Aspekte, die im Zusammenhang mit dem Ende der DDR standen, überhaupt genauer betrachtet werden sollen. Webers Überlegungen, daß die Bevorzugung spektakulärer IM-Berichte durch die Politikwissenschaft zeitweise die alltägliche DDR-Wirklichkeit in ein falsches Licht rückte, ist sicherlich zuzustimmen. Es gilt zu unterscheiden zwischen SED-System und dem Leben der Bürger in dieser Diktatur. (Weber 1997: 5 f.) Da die Unzufriedenheit der Menschen der Auslöser für die Revolution war, steht in dieser Arbeit eher der letzte Aspekt im Vordergrund. Einen ersten wichtigen Untersuchungsbereich stellten entsprechend die Stimmung in der Bevölkerung, sowie die Oppositionsgruppen, die sich aufgrund derselben herausbildeten, dar. Weil die Politik der Staatsführung und die wirtschaftliche Situation, wie gezeigt werden wird, einen nicht unerheblichen Einfluß auf die Stimmung der Menschen hatten, finden auch diese Faktoren Berücksichtigung. Im Fall der Wirtschaft besteht ein weiteres Motiv für deren Analyse darin, daß bei Kenntnis aller Fakten 1989 abzusehen war, daß sie nicht nur Reformierungsbedürftig gewesen ist, sondern unweigerlich mittelfristig zum Zusammenbruch verurteilt war, was ebenfalls belegt wird. Die innere Entwicklung des MfS wird dagegen weitgehend ausgeklammert(2), schon weil sie nicht ohne weiteres von westlichen Betrachtern unmittelbar wahrgenommen werden konnte. Außerdem hätte die Einbeziehung dieses Aspektes den Rahmen der Arbeit hoffnungslos gesprengt. Auf die nicht zu unterschätzende Rolle der Kirche(3), deren Gotteshäuser den Oppositionellen ein erstes freies Forum boten (Wolle 1998: 262) und die außenpolitische Situation kann aus dem selben Grund leider ebenfalls nicht näher eingegangen werden. Dies ist insofern problematisch, als eine verengte Sichtweise auf militärstrategische Aspekte die Prognosen bezüglich einer möglichen Vereinigung Deutschlands sicherlich beeinflußte. Andererseits konnte zumindest in der frühen Phase der Revolution niemand davon ausgehen, daß die Sowjetunion die DDR ohne weiteres aus ihrem Einflußbereich entlassen würde. (Jesse 1992: 44) Es erscheint mir daher legitim, ohne weitere Überprüfung von einer entsprechenden Wahrnehmung westlicher Beobachter auszugehen. Die elementare Rolle von Gorbatschows Reformen als ein Faktor, der zunächst den Umsturz in der DDR und später die Vereinigung Deutschlands ermöglichte, soll damit keinesfalls in Frage gestellt werden. Der Aussage von Alcandre, daß die Entwicklung der beiden deutschen Staaten in den Jahren 1989 und 1990 nicht ohne Einbettung in den internationalen Kontext verstanden werden kann (Alcandre 1991: 1), muß selbstverständlich zugestimmt werden. Es geht hier schlichtweg weniger um das Verständnis des Prozesses der Revolution, als vielmehr um die Wahrnehmung der westlichen Öffentlichkeit bezüglich der Zustände in der DDR selbst.

Zuletzt muß geklärt werden, wie die "westliche Wahrnehmung" der oben herausgearbeiteten Aspekte operationalisiert werden soll. Für einen möglichst breiten Ansatz bieten sich Massenmedien an, weil hier Expertenmeinungen, auch von außenstehenden Wissenschaftlern und Politikern, mit Vor-Ort-Reportagen zusammenfielen. Aus dieser Sparte werden wiederum periodisch erscheinende Printmedien gewählt, die sich gut den laufenden Entwicklungen gegenüberstellen lassen und außerdem leichter zugänglich sind, als beispielsweise Fernseh- oder Radiosendungen von 1989 und 1990. Um gegebenenfalls systematisch wirkenden unterschiedlichen politischen Ideologien zu berücksichtigen, werden "Die Zeit", "Die Welt" und "Die Tageszeitung"(4) untersucht. Eine Rücksprache mit den Mitarbeitern des Dokumentations- und Datenbankzentrums der Universität Mannheim ergab, daß damit das politische Meinungsspektrum, wenn auch etwas "linkslastig" einigermaßen abgedeckt ist. Da die ZEIT im Gegensatz zu WELT und TAZ nicht täglich, sondern wöchentlich erscheint, wird außerdem bis zu einem gewissen Punkt der unterschiedlichen Darstellung von Inhalten in Wochen- und Tageszeitungen Genüge getan.

Die Anfangs gestellten Fragen sind unten Berücksichtigung der Einschränkungen bei der Betrachtung in Hypothesenform gebracht worden:

Um etwaige Fehlperzeptionen ermitteln zu können, muß natürlich der "objektive" Zustand der DDR, sowie der "tatsächliche" historische Ablauf der Ereignisse zum Vergleich mit den Darstellungen in den Zeitungen zumindest skizziert werden. Schon weil die westliche Wahrnehmung auch auf vergangenen Ereignissen und älteren Informationen beruhte, findet dabei eine weit über den engeren Untersuchungszeitraum hinausgehende Periode Berücksichtigung, die oben bereits angedeutet wurde. Sofern auch im Nachhinein Aspekte umstritten sind, wird darauf jeweils kurz eingegangen. Den ersten Teil der Arbeit bildet entsprechend die Darstellung der grundlegenden wirtschaftlichen Situation und die in erster Linie aus ihr resultierende Grundstimmung in der Bevölkerung Ende der 80er Jahre. Dabei wird versucht herauszuarbeiten, welche Fakten im Westen bekannt waren, und welche Aspekte erst nach dem Zusammenbruch der DDR ans Tageslicht traten.

Es schließen sich drei Untersuchungsabschnitte an, in der die Ereignisse seit Anfang der 80er Jahre bis August 1989, dann bis zur Grenzöffnung am 9. November 1989 und schließlich bis Januar 1990 skizziert werden. Da sich an der strukturellen wirtschaftlichen Situation, abgesehen von der Flüchtlingsproblematik nichts änderte, wird hierauf in nur noch am Rande eingegangen. Der erste Abschnitt stellt die "Vorgeschichte" der Revolution dar. Die eigentliche "heiße Phase" des Umbruchs wird zum Zeitpunkt der Öffnung der Berliner Mauer in zwei nahezu gleich lange Abschnitte gesplittet. Dieser Zeitpunkt bietet sich an, weil mit der vollen Reisefreiheit eine der wichtigsten Forderungen der Opposition erfüllt war. Außerdem mußte spätestens durch die Umstände der Grenzöffnung allen Autoren der Zeitungen klar sein, daß die Ereignisse in der DDR eine Eigendynamik entwickelt hatten, die nicht ohne weiteres von der SED zu kontrollieren war. Zuletzt läßt sich nur so die Hypothese bezüglich der Prognose des Mauerfalls überprüfen.

Der Entwicklung im ersten Untersuchungsabschnitt wird die Darstellung in der ZEIT gegenübergestellt, um eine Basis der Wahrnehmung zu erhalten, die noch nicht von der sich seit September organisierenden Oppositionsbewegung geprägt wurde. Da die Restriktionen der Diplomarbeit die Berücksichtigung aller drei Zeitungen unmöglich machten, wurde mit der ZEIT die politisch gemäßigte und durch ihr nur wöchentliches Erscheinen am wenigsten arbeitsaufwendige Variante gewählt. In den beiden Abschnitten des "engeren Untersuchungszeitraums" sind dagegen alle drei Zeitungen zugrunde gelegt.

Die Analyse der vorselektierten Zeitungsartikel(5) erfolgt auf zwei weitgehend voneinander unabhängigen Arten. Für eine Inhaltsanalyse wird entsprechend der obigen Ausführungen nach Aussagen über die wirtschaftliche Situation, die Stimmung in der Bevölkerung, Oppositionsgruppen, das Verhalten der jeweiligen Staatsführung sowie nach Prognosen gesucht. Durch eine quantitative Auszählung soll zum einen geklärt werden, ob eine Tendenz zur Über- bzw. Unterbewertung einer der Aspekte gegeben war und ob diese über die Zeit sowie im Vergleich der Zeitungen konstant blieb. Dahinter steht das Konstrukt, daß die wahrgenommene Relevanz eines Aspekts stetig positiv mit der Anzahl der Aussagen darüber korreliert ist. Bei der Gegenüberstellung der Wahrnehmung vor und nach dem Mauerfall wird der wirtschaftlichen Bereich in den Vordergrund gestellt, weil dort im Gegensatz zu den anderen untersuchten Aspekten die tatsächliche grundlegenden Situation unverändert blieb. Etwaige systematische Wahrnehmungsveränderungen sollten aufgrund dessen bei der Darstellung der Wirtschaftslage am besten ermittelt werden können. Zweitens soll ein grober Trend hinsichtlich der Richtung der Aussagen in den einzelnen Bereichen ermittelt werden. Inhaltlich unterschied sich dieser aufgrund der sich überschlagenden Ereignisse naturgemäß in den einzelnen Zeitabschnitten. Sogar die Bereiche selber können aus diversen Gründen in den beiden Phasen nicht ganz einheitlich betrachtet werden. Die Erklärung der Zuordnung von Inhalten zu Kategorien ist deshalb in den entsprechenden Kapiteln zu finden.

Den Abschnitten der eigentlichen Inhaltsanalyse folgt jeweils eine detailliertere Darstellung der Inhalte auf Basis ausgesuchter Artikel, welche die Berichterstattung über besonders relevante Gegebenheiten stärker in den Vordergrund rückt. Auch hier werden wieder Unterschiede zwischen den drei Zeitungen herausgearbeitet. Aus dieser Vorgehensweise ergeben sich eine Reihe methodischer Probleme, die nicht geleugnet werden sollen:

Um die Darstellung abzurunden wird schlagwortartig in einem weiteren Abschnitt die tatsächliche Entwicklung bis zur Vereinigung Deutschlands in aller Kürze umrissen.

Zuletzt werden die oben angestellten Hypothesen durch die Zusammenfassung der Ergebnisse der Zeitungsanalyse auf ihre Richtigkeit überprüft. Die Resultate sind über die Zeitungen hinweg erstaunlich uneinheitlich. Da diese offenkundig nicht oder nur sehr begrenzt auf den unterschiedlichen Zugang zu "harten Fakten" zurückzuführen sind, wird abschließend ein alternativer Erklärungsansatz skizziert, der die Rolle von politischen Ideologien und wissenschaftlichen Paradigmen in den Vordergrund stellt.

 

 


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