3. Die Vorgeschichte bis August 1989

3.1. Formierung der Opposition

3.1.1. Scheinbares Scheitern der Friedensbewegung Mitte der 80er Jahre

Die Tatsache, daß 1980 der Bund der evangelischen Kirchen in der DDR und die der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen der DDR angehörigen Freikirchen eine "Friedensdekade" proklamierten, zeigt die Verknüpfung von Kirche und Oppositionsbewegungen in der DDR. In Anlehnung an den Bibelspruch "Schwerter zu Pflugscharen" wurden Friedensgebete abgehalten und die Pastoren ließen die Glocken läuten. Die Kirche spielte dabei eine Art Ver- mittlerrolle zwischen SED und Oppositionsgruppen und unterhielt gute Beziehungen zur Obrigkeit.(17) Die Oppositionsgruppen, die im wahrsten Sinne des Wortes unter dem Dach der Gotteshäuser agierten, stellten in erster Linie Friedens- und Umweltgruppen dar. Ziel war nicht der Umsturz, denn dieser erschien illusorisch, sondern eine Verbesserung der Situation im Sozialismus. (Wolle 1998: 261 ff.)

Der Staat reagierte auf die Gruppen in zweifacher Weise: Zum einen kreierte er eine eigene "offizielle" Friedensbewegung, welche die zur eigenen Entspannungspolitik passenden Aspekte der "echten" Bewegung aufgriff. Zum anderen wurden die Oppositionellen überwacht und Repressionen ausgesetzt. (Wolle 1998: 266 ff.)

An dieser Stelle kann weder die gesamte Geschichte dieser Akteure wiedergegeben werden, noch die Involviertheit westlicher Gruppen wie den Grünen, oder die ambivalente Reaktion der SED-Führung näher beleuchtet werden.(18) Die Für die Betrachtung der westlichen Perzeption bleibt festzuhalten, daß die unabhängige Friedensbewegung in der DDR 1986 in ihren Zielen gescheitert schien und sich Resignation ausbreitete. Wie sich später herausstellte hatte sie aber dennoch den Boden für künftige Oppositionsgruppen bereitet. (Wolle 1998: 280)

3.1.2. Gorbatschows Perestroika als neue Initialzündung

Unter Gorbatschow als Generalsekretär der KPdSU bekamen die Satellitenstaaten des Ostblocks innenpolitisch einen relativ großen, von Moskau unabhängigen Gestaltungsspielraum. Die SED-Führung erwies sich dabei als reformunfähig. Faktisch konzeptlos setzte sie zunehmend auf Repression. Die Beschlüsse des letzten Parteitags 1986 waren innovationsfeindlich. Eine nicht vorhandene, oder "Antireform", wie Meuschel es ausdrückt, bezeichnete die SED als "Sozialismus in den Farben der DDR". Kritik von außen wurde mit dem Hinweis, daß man eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten nicht dulde, abgeschmettert, abweichende Ansichten innerhalb der DDR unterdrückt. Die Notwendigkeit von politischer Stabilität an der Grenze zwischen Ost und West lieferte dafür die fadenscheinige Begründung. (Meuschel 1992: 301ff). Dahinter stand die Hoffnung, daß die Reformen in der Sowjetunion mittelfristig scheitern, und konservative Kreise in der KPdSU wieder die Macht an sich reißen würden. (Nakath 1994: 19) Die DDR-Staatsführung spielte also auf Zeit.

Der "Sozialismus in den Farben der DDR" stellte für die Bevölkerung kein unterstützungswertes Konzept dar. Der Vergleich Kurt Hagers im April 1987, der die Reformen in der Sowjetunion mit einem Tapetenwechsel verglich, den man nicht übernehmen müsse, löste eine Flut von Protesten gerade innerhalb der SED aus. Die Sowjetunion war nun nicht länger Vorbild für die SED-Spitze, wohl aber für die Bevölkerung. (Neubert 1997: 770 f.; Wolle 1998: 292 f.)

Die Staatsmacht versuchte den "frischen Wind aus dem Osten" durch Verbote von sowjetischen Filmen und Publikationen einzudämmen. Mit dem Argument, nicht mehr der deutsch-sowjetischen Freundschaft zu dienen und die Geschichte verzerrt darzustellen, wurde beispielsweise am 19.11.1988 durch eine winzige Meldung im "Neuen Deutschland" bekanntgegeben, daß die Zeitschrift "Sputnik" von der Postzeitungsliste gestrichen worden sei. (Meuschel 1992: 301ff.; Nakath 1994: 17; Süß 1996b: 238; Wolle 1998: 294). "[D]ie kraftmeierische Pose des öffentlich verkündeten Verbots einer Publikation aus der UdSSR, verbunden mit der duckmäuserischen Verlogenheit der äußeren Form seiner Bekanntmachung, löste [einen] Proteststurm aus. Über die Behauptung, der Postminister trage die Verantwortung für die Absetzung des »Sputnik« [...], konnte jeder, der die Machtstrukturen des SED-Staates kannte, nur lachen." (Wolle 1998: 295)

Die zunächst sporadischen Aktionen der Opposition bis 1989, sowie die Reaktionen der SED-Spitze darauf, können hier aus Platzgründen leider nur aufgezählt werden. Zu nennen sind zunächst die "Zionskirchen-Affäre" im November 1987, die Vorgänge anläßlich der alljährlichen Liebknecht-Luxemburg-Kampfdemonstration seit Januar 1988, sowie Aktionen von Mitarbeitern von Kirchenzeitungen. Diese Zeitungen erschienen Anfang 1988 erstmals demonstrativ mit weißen Stellen an zensierten Passagen. Im Oktober 1988 sollte dem Presseamt eine Petition übergeben werden und es kam zu Protesten, in denen hunderte ihren Unwillen über staatliche Zensur und leisetreterische Politik der Kirchenleitung zum Ausdruck brachten. Eine neue Dimension erreichte die schwelende politische Krise mit den Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989, welche die Oppositionsbewegung zu überwachen versuchte und ungefähr 20 Prozent Gegenstimmen feststellte. Danach wurde zu Gedenk-Protestaktion an jedem 7. eines Monats aufgerufen. Zu erwähnen sind weiterhin die Solidaritätskundgebungen mit den chinesischen Studenten, nachdem die DDR-Staatsführung das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens Anfang Juni 1989 positiv bewertet hatte. (Süß 1996b: 237; Wolle 1998: 297 ff. & 1999: 316 ff.)

Erste nennenswerte organisierte Gruppen bzw. Institutionen stellten die "Umweltbibliothek", die "Arbeitsgemeinschaft Staatsbürgerschaftsrecht" und "Radio Glasnost" dar. (Neubert 1997: 769; Wolle 1998: 297 ff.).

In allen Fällen behielt die Staatsmacht die Kontrolle und es kam zu Festnahmen. Nach weiteren Protestaktionen bzw. westlichen Medienberichten gab sie nach und entließ Verhaftete wieder. Ein Teil der Oppositionellen wurde dabei in den Westen ausgewiesen. Dies geschah, sofern die Betroffenen nicht ohnehin dieses Ziel mit ihren Protesten verfolgten, unter Druckanwendung. Damit entledigte sich die Staatsführung zum einen unerwünschter Personen, zum anderen nahm sie den Verbleibenden die Hoffnung auf Reformen innerhalb der DDR, worauf aufkeimende Massenbewegungen immer wieder zusammenbrachen. Da Opposition noch fast ausschließlich unter dem Dach der Kirchen statt fand, bediente die Staatsmacht sich auch der Kirchenführung der DDR, welche den offenen Konflikt scheute. Diese ließ teilweise die Inhaftierten über die große Solidarität im Lande mit ihnen im unklaren, und wirkte auf die Freilassung und später auch Reformen fordernden Menschen mäßigend ein. Die Kirche stand also keinesfalls voll hinter den Oppositionellen. (Wolle 1998: 297 ff. & 1999: 317 ff.)

Es bleibt Festzuhalten, daß es schon vor 1989 eine Protestbewegung in der DDR gab, die das Unterdrückungs- und Bespitzelungssystem aber weitgehend unter Kontrolle halten konnte.

3.1.3. Die Sonderrolle der Ausreisewilligen

Bereits am 20. Januar 1984 besetzten erstmals DDR-Bürger die Botschaft der USA, um ihre Ausreise zu erzwingen. Nicht zuletzt, weil westliche Medien als Druckmittel benutzt wurden, konnten die ersten sechs Botschaftsflüchtlinge auf direkten Befehl Honeckers noch in der selben Nacht nach West-Berlin ausreisen. Damit war eine Lavine losgetreten: Im Februar wurde die bundesdeutsche Botschaft in Prag, sowie die Ständige Vertretung in Ost-Berlin besetzt. Die Lage in den Botschaften normalisierte sich erst wieder, als ab Oktober 1984 den Besetzern nicht mehr länger die zügige Ausreise durch die SED-Führung gewährt wurde. Hintergrund für diese nun wieder härtere Gangart war vermutlich die Absage des geplanten Honecker-Besuchs in der Bundesrepublik. (Wolle 1998: 287)

Seit März 1988 kam es parallel zu Versammlungen Ausreiswilliger auf öffentlichen Plätzen. Sie waren außerdem zum Teil besonders aktiv in Oppositionsgruppen engagiert. Somit brachten paradoxerweise gerade die Menschen, die keine Hoffnung einer Umgestaltung der DDR mehr hatten, durch ihr Engagement den Stein der Revolution ins Rollen. Das Verhältnis zu den Bleibewilligen war dabei angespannt, denn im Gegensatz zu diesen verfolgten die Ausreisewilligen mit ihren Aktionen das egoistische Ziel, die Bearbeitung ihres Ausreiseantrags zu beschleunigen und weniger die Reformierung der DDR, die sie ohnehin für illusionär hielten. Entsprechend waren sie unzuverlässig und auf Dauer keine Partner für die Reformkräfte. (Wolle 1998: 287 ff. & 1999: 323)

1989 erstritt die Ausreisebewegung insgesamt 50.000 Ausreisegenehmigungen. Schwerwiegender war jedoch die Tatsache, daß Ungarn seit Mai die Grenzabsperrungen zu Österreich abzubauen begann. Neben neuen Botschaftsbesetzungen setzte ein Massenexodus über diese durchlässiger werdende Grenze ein. Unklar bleibt, wieso die SED-Führung erst Anfang Oktober, nachdem die Besetzer der Prager Botschaft ihre Ausreise erzwungen hatten, die Grenze zur Tschechoslowakei schloß. Eine mögliche Erklärung ist, daß entsprechend den Verlautbarungen Honeckers tatsächlich alle Unzufriedenen die DDR verlassen sollten, wobei deren Zahl wohl stark unterschätzt wurde. (Süß 1996b: 254 f.; Wolle 1998: 289) Interessant ist weiterhin, daß der Großteil der Bevölkerung in diesem Moment weniger die epochale Bedeutung der Grenzöffnung wahrnahm, als vielmehr befürchtete, nun durch eine noch restriktivere Politik auch ihres Urlaubs im Süden beraubt zu werden. (Süß 1996b: 239)

3.2. Darstellung der vorrevolutionären Phase in der ZEIT

3.2.1. Quantitative Auswertung der Artikel

Bezüglich der vorrevolutionären Phase wurde, wie bereits in der Einleitung erläutert, lediglich die ZEIT als Referenz für die westliche Wahrnehmung benutzt. Bei ihrer Durchsicht fiel auf, daß sich insgesamt verhältnismäßig wenige Artikel mit dem politischen Umbau des Ostblocks im allgemeinen und der DDR im speziellen befaßten. Die Schwerpunktthemen lagen in anderen Bereichen. Als Beispiele seien die Abholzung des tropischen Regenwaldes, die Bildungsreform, oder die Nachrüstung modernisierter atomarer Kurzstreckenwaffen genannt. Letztere stand selbstverständlich in Verbindung mit dem Verhältnis zwischen NATO und Warschauer Pakt, und somit indirekt auch der DDR, war aber primär ein innenpolitisches Thema.

Nach Durchsicht aller vorselektierten Artikel verblieben lediglich 59 Beiträge, die tatsächlich für das Untersuchungsgebiet relevante und zuordbare Inhalte aufwiesen. 17 thematisierten die wirtschaftliche Situation, in 26 Fällen wurde auf die Stimmung in der Bevölkerung im allgemeinen bzw. oppositionelle Handlungen eingegangen und 37 mal wurde das Verhalten der SED-Führung angesprochen. Prognosen fanden sich in 14 Artikeln.

Da hier erstmals die entsprechenden Kategorien auftauchen, erscheint es angebracht, die Grundlagen der Zuordnung zu erklären: In die Rubrik "Wirtschaft" wurden alle Inhalte sortiert, die sich im weitesten Sinne mit der wirtschaftlichen Situation in der DDR beschäftigten. Das Spektrum reicht von der aktuellen Versorgungslage, über den Verfall der Städte und Produktionsanlagen, bis zu wirtschaftswissenschaftlichen Analysen. "Stimmung der Bevölkerung / Opposition" umfaßt alle Artikel, in denen die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung, sowie Protestaktionen Einzelner oder organisierter Gruppen thematisiert wurden. Unter "Verhalten der Staatsmacht" wurde deren tatsächliches Vorgehen gegenüber Oppositionellen, aber auch die Schilderung aktueller Tagespolitik, sowie globalere Einschätzungen, wie "Reform- unfähigkeit der SED-Führung" verstanden. In die Kategorie "Prognosen" wurden alle nennenswerten Aussagen eingeordnet, die über die aktuelle Darstellung hinausgingen und im weitesten Sinne das Verhältnis zwischen Bundesrepublik und DDR betrafen. Dem Stichwort "Wirtschaft" wurden alle Inhalte zugeordnet, die sich mit der wirtschaftlichen Situation der DDR und ihrer Folgen auseinandergesetzt haben.

Da weniger die einzelnen Artikel, als vielmehr ihre Inhalte untersucht wurden, überschreitet die Summe der Einträge in den folgenden Tabellen die Gesamtzahl der Artikel. Wurde z.B. in einem Beitrag festgestellt, daß die SED-Führung keine Reformen durchführt, außerdem die Versorgungslage kritisch wird, deshalb die Stimmung in der Bevölkerung angespannt ist, sowie über mögliche revolutionäre Szenarien spekuliert, erfolgte eine Einordnung in alle vier Kategorien.

Tabelle 4: Inhaltliches Spektrum der Zeit-Artikel über die DDR von Januar bis August 1989
Wirtschaft Stimmung der Bevölkerung / Opposition Verhalten der Staatsmacht Prognosen
17 (32) 26 37 14

Die wirtschaftliche Situation in der DDR wurde im Vergleich mit den anderen Kategorien, die sich mit der aktuellen Situation auseinandersetzten, deutlich weniger häufig thematisiert. Wenn über die Wirtschaft im Ostblock geschrieben wurde, waren meistens die Verhältnisse in den Reformländern Polen und Ungarn, sowie der Sowjetunion von Interesse.(19) Eine augenfällige Erklärung hierfür liegt wohl schlichtweg darin, daß es in der DDR keine Wirtschaftsreformen gab, die einen Bericht wert gewesen wären. Um überhaupt in der inhaltlichen Zusammenfassung die westliche Wahrnehmung mit der tatsächlichen Situation vergleichen zu können, wurden deshalb 15 weitere Artikel mit einbezogen, die sich eigentlich nicht mit der ökonomischen Situation in der DDR auseinandersetzten. In ihnen fanden sich lediglich am Rande schlagwortartige Aussagen. Zum besseren Verständnis sei ein Beispiel angeführt: Im Artikel "Kurzschluß im Berliner Stromverbund" von Joachim Nawrocki, waren lediglich Aussagen in zwei Sätzen relevant, nämlich daß die DDR über keinen Stromüberschuß verfügt und die Berliner Luft durch Braunkohlekraftwerke verpestet. (Nawrocki in ZEIT Nr. 26 vom 23.6.1989, S. 24)

Tabelle 5 : Artikel über die wirtschaftliche Situation in der DDR in der ZEIT von Januar bis August 1989
Wirtschaft der DDR als... Anzahl der Artikel
Hauptthema 6
ein Thema von mehreren 11
ausgesprochenes Randthema 15

Aufgrund der geringen Zahl von Artikeln, die sich in nennenswerten Umfang mit der wirtschaftlichen Situation beschäftigten, wird die durchaus uneinheitliche Tendenz der Darstellung wirtschaftlicher Aspekte ausschließlich im folgenden Kapitel, nämlich der inhaltlichen Zusammenfassung beschrieben.

Die Stimmungslage der Bevölkerung, sowie oppositionelle Aktionen fanden etwas häufiger Erwähnung. Hauptthema waren jedoch Analysen über die Staats- und Parteiführung der DDR. Tabelle 6 auf der folgenden Seite gibt die Tendenz der westlichen Perzeption in diesen Bereichen wieder.

Die Kategorien mögen auf den ersten Blick etwas willkürlich erscheinen. Dies ist primär darauf zurückzuführen, daß sie sich an den vorgefundenen Inhalten orientierten, und aufgrund der geringen Fallzahlen auf eine weitere Fragmentierung der Bereiche bewußt verzichtet wurde. Eine Trennung beispielsweise von Bevölkerung im allgemeinen und Oppositions-gruppen im besonderen war schon deshalb nicht sinnvoll, weil zum großen Teil aus ent- sprechenden Artikeln zu diesem Zeitpunkt noch nicht hervorgeht, ob, und ggf. welche Gruppe zu geschilderten Aktionen aufgerufen hat. "Wunsch nach Ausreise" und "Wunsch nach Vereinigung" wurden zusammengefaßt weil beide Stimmungen die Existenz der DDR in Frage stellten. Die Bezeichnungen der Kategorien in der Tabelle sprechen für sich und müssen daher hier nicht weiter erläutert werden.

Tabelle 6: Tendenz der Berichterstattung über die SED-Führung und die Stimmung in der Bevölkerung in der ZEIT von Januar bis August 1989
  Dargestellte Politik der SED-Führung Dargestellte Stimmung in Bevölkerung / Opposition
N
E
G
A
T
I
V
keine Reformen 11 Schlecht / Resignation 7
Härte

(z.B. Sputnik-Verbot, Zensur, Verhaftungen)

16 Anspannung, Proteste,
Wunsch nach Reformen
15
Hilflosigkeit

(Erkennt den Erst der Lage nicht /
Warten auf Scheitern von Gorbatschows Reformen)

6 Wunsch nach Ausreise, Wiedervereinigung Deutschlands 7
P
O
S
I
T
I
V
kleinere Reformen

(z.B. Ansätze von Rechtssicherheit, Truppenabbau)

5 tendenziell positive Akzeptanz der Gegebenheiten 3
gewisse Lockerungen

(z.B. bei Westreisen, Ausreisen, Zensur)

4  

Trotz aller Einschränkungen der Validität lassen sich in jedem Fall zwei Trends identifizieren: Erstens wurde gleichermaßen hinsichtlich des Verhaltens der Staatsführung, wie auch der Stimmung der Bevölkerung insgesamt ein negatives Bild gezeichnet. Zweitens wurde die Stimmung in der Bevölkerung eher als angespannt und durch den Wunsch nach Reformen geprägt wahrgenommen, als rein resignativ. Zu beachten ist aber, daß hiermit primär die Stimmung und keinesfalls das Verhalten wiedergegeben wird, also fast keine öffentliche Proteste registriert wurden. Genauer wird dieser Aspekt noch in der inhaltlichen Zusammenfassung der Texte angesprochen.

Die 14 Prognosen bezogen sich teilweise nur im weitesten Sinne auf eine mögliche deutsche Einheit oder eine Aufhebung der Grenzabriegelung. Eine Quantifizierung in Kategorien erschien deshalb nicht sinnvoll. Sie werden entsprechend ausschließlich in der inhaltlichen Zusammenfassung betrachtet.

3.2.2. Inhaltliche Zusammenfassung der Beiträge

3.2.2.1. Wahrnehmung der wirtschaftlichen Situation

Aus den wenigen Artikeln der ZEIT, welche die wirtschaftliche Situation thematisierten ergab sich folgendes Gesamtbild:

Peter Bender stellte die Zukunftsaussichten der DDR-Wirtschaft eher negativ dar: Der technische Anschluß an westliche Standards gelänge nicht und die Forderungen Moskaus stellten eine zusätzliche Belastung dar. Insbesondere hob er das Gefälle zwischen Ost-Berlin und der Provinz hervor und resümierte, daß die DDR während ihrer gesamten Existenz von ihrer Substanz gezehrt hatte. (Bender in ZEIT Nr. 28 vom 7.7.1989, S. 3) Nawrocki schrieb, "[...] daß Spötter meinten, um die Jahrhundertwende werde man die Altstädte der DDR mit dem Besen zusammenfegen können. ‘Ruinen schaffen ohne Waffen’ lautet die Parole". (Nawrocki in ZEIT Nr. 34 vom 18.8.1989, S. 3) Heinrich August Winkler vertrat die selbe Meinung. Er prognostizierte, daß sich die DDR langfristig nicht gegen eine Politik der Perestrojka abschotten, und nur Privatinitiative ihren Ruin verhindern könne. (Winkler in ZEIT Nr. 33 vom 11.8.1989, S. 5) Der ehemalige DDR-Ökonom Harry Maier schilderte in seinem Artikel "Klavierspielen mit Boxhandschuhen" bereits am 10.3.1989 ausführlich die Probleme der ostdeutschen Exportwirtschaft und benannte die Ursachen. Als Grundproblem wurde einerseits der Schwerpunkt des Handels zwischen den beiden deutschen Staaten auf Roh- und Grundstoffbasis identifiziert. Die aktuelle Politik der SED-Führung brachte er auf die Formel "Müll statt Technologie" und hob hervor, daß die "Zahlungen für die fragwürdige Lieferung von Müll aus der Bundesrepublik in die DDR [...] vierzehnmal höher als die Ausgaben der beiden deutschen Staaten für den Erwerb von Technologien im innerdeutschen Handel im Jahre 1987 [waren]". Nachdem sich insbesondere die Weltmarktpreise für Rohöl für die DDR negativ entwickelt hatten, ging der Erlös in diesem Bereich zurück und mußte durch technologieintensivere Produkte kompensiert werden. Da die DDR nur relativ simple Produkte mit geringem Marktwert herstellte, mußte sie quantitativ relativ viel ausführen und stieß schnell an ihre Kapazitätsgrenzen. Hierin sah er das zweite schwerwiegende Problem, denn aufgrund dessen ging der innerdeutsche Handel insgesamt zurück. Von der SED-Führung wurde eine verstärkte Innovationsrate gefordert, die sie selbst durch Reformunfähigkeit und unzureichende Investitionsmittel torpedierte. Bürokratische Planungs- und Entscheidungsmechanismen verhinderten trotz gewaltiger Anstrengungen auch in geförderten Prestigebereichen wie der Mikroelektronik eine relative Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit in bezug auf das westliche Ausland. Scheininnovationen konnten allenfalls von den monopolistischen Kombinaten dazu genutzt werden, die Binnenpreise in der DDR Künstlich anzuheben. Alle Anstrengungen konnten außerdem nicht fruchten, solange die DDR durch den Verkauf von Patenten in den Westen Devisen zu beschaffen suche, statt dort Know How zu erwerben, um ihren technologischen Rückstand zu vermindern.(20) (Maier in ZEIT Nr. 11 vom 10.3.1989, S. 35 f.) Entsprechend wies am 14. April Thomas Hanke darauf hin, daß selbst die Begünstigung der DDR durch ihre faktische Integration in die westeuropäische Zollunion aufgrund der mangelnden Qualität ihrer Produkte keine Hilfe sei. (Hanke in ZEIT Nr. 16 vom 14.4.1989, S. 43) Am 11. August wurden diese Analysen von Nawrocki bestätigt, der feststellte, daß Niedriglohnländer im Fernen Osten dem DDR-Export zunehmend den Rang abliefen. (Nawrocki in ZEIT Nr. 33 vom 11.8.1989, S. 23) Abgerundet wurde das Bild durch einen Artikel, in dem Dahrendorf feststellte, daß der Sozialismus weder ökonomische Eigeninitiative noch politische Partizipation als Schlüsselfaktoren moderner Gesellschaften hervorgebracht habe. (Dahrendorf in ZEIT Nr. 32 vom 4.8.1989, S. 3) Allerdings wurde die DDR dabei nicht explizit erwähnt.

Neben den rein ökonomischen wurden auch die ökologischen Folgen wahrgenommen: Harry Maier stellte fest, daß sich die Umweltbelastung aufgrund der forcierten Nutzung von Braunkohle zur Stromerzeugung verschärft habe. Die mit Hilfe der gegebenen Mittel vorhandenen Möglichkeiten zur Energieeinsparung seien bereits voll ausgeschöpft. Durch den Druck in der Bevölkerung prophezeit er den Bau von Kernkraftwerken mit westdeutscher Technologie, weil die Sowjetunion ihren Lieferverpflichtungen nicht mehr nachkommen könne. (Maier in ZEIT Nr. 12 vom 17.3.1989, S. 45)

Als Fazit läßt sich also festhalten, daß die Probleme der DDR-Wirtschaft, wie auch deren Ursachen zwar nicht häufig thematisiert, aber durchaus wahrgenommen wurden. Insbesondere die zwei zitierten Artikel von Harry Maier beinhalteten alle relevanten Defizite, die im Kapitel über den tatsächlichen Zustand der DDR-Wirtschaft herausgearbeitet wurden.

Eine andere Frage ist, ob auch die Brisanz der Situation in den Beiträgen deutlich wurde. Kaiser bezeichnete die wirtschaftliche Situation als "eigentliche Achillesferse der DDR. [...] Ohne eine zureichende Wirtschaft kann sich der Staat weder nach innen ausweisen, noch nach außen den ‘Sozialismus in der Farben der DDR’ hochhalten. Geht seine Stellung als noch am besten florierende Staatswirtschaft des Ostblocks verloren, [...] gerät jene ‘Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik’ [in Gefahr], die den Kern des SED-Sozialismus ausmacht und deren Errungenschaften die Bürger der DDR durchaus nicht gering achten." (Kaiser in ZEIT Nr. 30 vom 21.7.1989, S. 6) Der Kolumnist der "Washington Post", Jim Hoagland, kam zu dem Schluß, daß genau diese Situation früher oder später eintreten müsse: "Die riesigen Staatssubventionen, mit Hilfe derer die Nahrungsmittelpreise der DDR seit zwanzig Jahren konstant gehalten wurden(21) , ersticken die Wirtschaft des Landes. Bald werden die materiellen Vorteile, die zur Rechtfertigung marxistisch-leninistischer Repressionen angeführt werden, die Kräfte des Arbeiter- und Bauernparadieses übersteigen." (Hoagland in ZEIT Nr. 26 vom 23.6.1989, S. 42) Theo Sommer stellte am 18.8. fest, daß die Versorgungslage sich bereits zu diesem Zeitpunkt entsprechend der Prognose von Hoagland drastisch verschlechtert hatte. Als Beispiele führte er eine Verdopplung der Wartezeit auf einen Trabant innerhalb der letzten drei Jahren, den nicht den Bedarf deckenden Wohnungbau, sowie die Tatsache, daß es in der DDR keine Damenschlüpfer und Babyschnuller zu kaufen gäbe an. (Sommer in ZEIT Nr. 34 vom 18.8.1989, S. 1) In einem am gleichen Tag erschienenen Bericht über Flüchtlinge bestätigten diese, daß insbesondere Kleidung und Medikamente in der DDR knapp geworden seien. (Glüsing in ZEIT Nr. 34 vom 18.8.1989, S. 2) Bender bezeichnete die Versorgungslage mit Medikamenten bereits Anfang Juli als "bedenklich". (Bender in ZEIT Nr. 28 vom 7.7.1989, S. 3)

Der "Export um jeden Preis", um an westliche Devisen zu gelangen, wurde zwar nur in wenigen Artikeln aufgegriffen, aber immerhin nicht vollkommen übersehen: Nawrocki wies auf DDR-Arbeiter in West-Berlin hin (Nawrocki in ZEIT Nr. 33 vom 11.8.1989, S. 23), Pfund auf die Devisenbeschaffung durch Luxushotels innerhalb der DDR. (Pfund in ZEIT Nr. 33 vom 11.8.1989, S. 46) Am drastischsten brachte der ehemalige Vertreter der Bundesrepublik in Ost-Berlin, Hans-Otto Bräutigam bereits im Januar die Situation auf den Punkt: "Die besten Produkte werden in den Westen exportiert; selbst Pflastersteine werden aus den Straßen gerissen, um damit Devisen zu machen; die Bundesrepublik [...] kauf[t] der SED-Führung sogar Menschen ab." (Kaiser et al. in ZEIT Nr. 3 vom 13.1.1989, S. 4) Er gab damit ein völlig korrektes Bild wieder, weitreichende Schlüsse zog er daraus jedoch nicht, wie später noch ausgeführt wird.

Es läßt sich also festhalten, daß die Situation in vielen Artikeln korrekt als dramatisch identifiziert wurde. Lediglich die brisante Verschuldungslage wurde überhaupt nicht thematisiert. Weil niemand dieses Staatsgeheimnis kannte, entsprach die Darstellung den zu diesem Zeitpunkt zugänglichen globalen Wirtschaftsdaten und persönlichen Beobachtungen.

Auch der Zusammenhang mit der Stimmung in der Bevölkerung, sowie die resultierende selektive Abwanderung bzw. "Republikflucht" und ihre Folgen wurden erkannt: Dadurch, daß besonders Akademiker und qualifizierte Arbeitskräfte sich nach ihrer Ausbildung Chancen im Westen ausrechneten, verlor die DDR jährlich 1,85 Milliarden Mark durch legal oder illegal Ausgereiste. (Augstein et al. in ZEIT Nr. 34 vom 18.8.1989, S. 10) Auf den wirtschaftlichen "Aderlaß" der DDR in Form der Auswanderung bzw. Flucht wurde dabei bereits in einem Dossier vom 20. Januar hingewiesen. (Gaus in ZEIT Nr. 4 vom 20.1.1989, S. 14)

Bei allgemein korrekten negativen Darstellungen der aktuellen Situation und den Zukunftsaussichten fanden sich allerdings auch einige Indizien, daß die Situation weniger verfahren wahrgenommen wurde, als sie es tatsächlich war: Peter Bender hob bei allgemein eher negativen Prognosen hervor, daß die Wirtschaftsdaten der DDR nach wie vor besser seien, als in allen anderen Oststaaten. (Bender in ZEIT Nr. 28 vom 7.7.1989, S. 3) Für viele Autoren schien eine Lösung der Probleme möglich, sofern sich die SED für Reformen und Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik entscheiden würde: Kaiser ging im Juni 1989 beispiels-weise davon aus, daß die DDR-Führung ihre Halsstarrigkeit aufgegeben hätte und prognostizierte zumindest eine deutsch-deutsche Kooperation im Bereich des Umweltschutzes. (Kaiser in ZEIT Nr. 30 vom 21.7.1989, S. 6) Piper vertrat sogar schon Ende März die den oben dargelegten Aussagen Maiers widersprechende Meinung, daß die DDR versuche, sich westdeutsche Innovationen nutzbar zu machen. Er belegte diese Auffassung durch eine erstmalige Firmenkooperation zwischen dem mittelständigen westdeutschen Werkzeugmaschinenbauer Trumpf und dem Kombinat "7. Oktober". (Piper in ZEIT Nr. 14 vom 31.3.1989, S. 40)

Besonders irritierend wirken aber aus heutiger Sicht Artikel, in welchen negative Fakten zwar korrekt dargestellt, aber positive Schlüsse aus ihnen gezogen wurden:

Ein Artikel von Harald Bräutigam über das Gesundheitswesen der DDR ist hierfür ein besonders augenfälliges Beispiel. In ihm gaben Ärzte an, daß einfache medizinische Artikel wie Einwegspritzen und Binden fehlten. Außerdem wurde beklagt, daß die Reparatur von Geräten oft Wochen dauerte und Anträge für Neuanschaffungen als auch medizinisches Material zwei Jahre im voraus gestellt werden mußten. Ein Apotheker erläuterte, daß ein nicht unerheblicher Teil der Medikamente zur Krebsbehandlung nur nach schriftlicher Begründung vom Gesundheitsministerium zur Verfügung gestellt und die Behandlung kontrolliert würde. Interessanterweise kam der Autor zu dem Schluß, daß diese offensichtlich durch wissenschaftlichen Rückstand der eigenen Medikamentenproduktion und Devisenknappheit hervorgerufene Vorgehensweise enorme Vorteile mit sich brachte. Er hob hervor, daß Behandlungen nicht verzettelt wurden und es im Gegensatz zur Bundesrepublik zuverlässige Datensammlungen zu allen möglichen Krankheiten gab. Als Resümee führte Bräutigam aus, daß das Gesundheitssystem der DDR zwar weniger luxuriös, aber besser als das bundesdeutsche sei. (Bräutigam in ZEIT Nr. 18 vom 28.4.1989, S. 80 f.) In wieweit speziell das Gesundheitssytem der DDR tatsächlich gewisse Vorteile mit sich brachte, ist im Rahmen dieser Arbeit nicht zu bewerten. Festzuhalten bleibt, daß die selbst von den Verantwortlichen geschilderten Defizite, die ins Bild der zuvor angesprochenen Beiträge passen, von Bräutigam in seiner Bewertung unterschätzt bzw. vollständig ignoriert wurden.

Fast nicht nachvollziehbar sind auch die widersprüchlichen Aussagen des ehemaligen Leiters der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin, Hans-Otto Bräutigam, in einem Interview vom 13. Januar 1989. Der Diplomat stellte nach einer korrekten Analyse fest, daß der SED-Führung nur zwei Optionen blieben: Entweder den Konsum der Bevölkerung zu reduzieren, oder den Handel innerhalb des RGW einzuschränken. Beides war aus politischen, bzw. wie Bräutigam sich ausdrückt, im Fall des RGW-Handels "fast moralischen" Gründen nicht möglich. "[Die DDR] steckt also wirtschaftspolitisch in einem strukturellen Dilemma. Aus dieser Schwäche käme sie auch nicht ohne weiteres durch Einführung eines Wettbewerbssystems heraus [...]". Gleichzeitig führte er aber aus: "’Dramatisch’ würde ich die Situation nicht nennen." Die Feststellung: "[w]as den wirtschaftlichen Bereich angeht, fühlt sich die DDR nicht im Rückstand, trotz der Probleme, die sie hat", blieb ohne weiteren Kommentar. Bräutigam nahm folglich die erheblichen Probleme der DDR wahr und sah nicht einmal in Reformen einen Ausweg, maß dem jedoch offensichtlich kaum Gewicht bei. (Kaiser et al. in ZEIT Nr. 3 vom 13.1.1989, S. 4 f.)

Insgesamt läßt sich also das Resümee ziehen, daß die aktuelle wirtschaftliche Situation tatsächlich von allen Autoren mit Ausnahme der Schuldensituation korrekt wahrgenommen wurde, eine Minderheit die Dramatik und Ausweglosigkeit der Lage jedoch unterschätzte.

3.2.2.2. Perzeption des Verhaltens der SED-Führung

Alle Autoren vertraten die Meinung, daß von der amtierenden SED-Führung keine gravierenden Reformen mehr zu erwarten seinen. In vielen Fällen wurde ausdrücklich auf die Tatsache hingewiesen, daß die Existenzberechtigung der DDR als Staat im Gegensatz zu anderen Ländern des Ostblocks aufgrund des Vorhandenseins der kapitalistischen Bundesrepublik untrennbar mit der Ideologie des Sozialismus verknüpft war. Damit wurde die Härte der Staatsführung gegen Systemgegner und ihr Unwillen Reformen durchzuführen zu einem gewissen Grad rational begründet. So führte beispielsweise Nawrocki aus: "Die Entwicklung der Langsamkeit in der DDR hat nicht nur etwas mit Gehbehinderungen der alten Herren im Politbüro zu tun. Entscheidender ist wohl, daß Ungarn auch am Ende seines atemberaubenden Weges immer noch Ungarn wäre, und auch Polen wäre ohne den Sozialismus nicht verloren. Die DDR aber wäre ohne Ideologie erst recht keine Nation." (Nawrocki in ZEIT Nr. 25 vom 16.6.1989, S. 7)

Die Härte des Staates gegen Opposition jeglicher Art spiegelte sich in mehreren Artikeln wider. So beklagte Rolf Michaelis am 30. Juni, daß das Stück "Revisor oder die Katze aus dem Sack" von Jürgen Groß nach drei Vorstellungen in Potsdam wegen "politischer Untragbarkeit" wieder abgesetzt worden war. (Michaelis in ZEIT Nr. 27 vom 30.6.1989, S. 41) Menge sprach am 16. Juni die Festnahme von Personen an, wobei diese am nächsten Tag alle wieder freigelassen wurden. Der Ost-Berliner Bischof Gottfried Forck verglich in diesem Beitrag "[...] die DDR-Regierung mit Eltern, die erwachsene Söhne und Töchter haben, sie aber [...] bevormunden, ihnen keinen Raum für freie Entwicklung lassen." (Menge in ZEIT Nr. 25 vom 16.6.1989, S. 13) Dies spiegelte eine gewisse Ambivalenz im Verhalten des Politbüros, bzw. der ausführenden Institutionen wider. Allgemein gingen die westlichen Autoren offenbar davon aus, daß die Staatsführung in der Hoffnung auf ein Scheitern von Gorbatschows Reformen auf Zeit spielte: Sie ließ die extrem Unzufriedenen Ausreisen und zeigte sich großzügig bei Besuchen in der Bundesrepublik. (Buhl in ZEIT Nr. 33 vom 11.8.1989, S. 1) Nawrocki wies darauf hin, daß die SED-Führung gerade deshalb die geringfügigsten Proteste sofort niederschlagen ließ, um es nicht zu einer Situation wie in Peking kommen zu lassen, bei der sie nur noch durch massivste Gewaltanwendung die Lage wieder unter Kontrolle bekommen hätte. (Nawrocki in ZEIT Nr. 25 vom 16.6.1989, S. 7)

Nur wenige Beiträge scherten aus dem allgemeinen Konsens aus, daß die SED-Führung um Erich Honecker zu keinen weitreichenden Reformen mehr fähig sei. Der bereits mehrfach zitierte Diplomat Hans-Otto Bräutigam wies beispielsweise darauf hin, daß nicht nur einmal getroffene positive Entscheidungen auch bei "Nebenwirkungen", wie kritischen Bürgern nach BRD-Reisen, nicht mehr revidiert wurden, sondern auch Anzeichen für offene Diskussionen in der Presse und auf Bürgerversammlungen wahrnehmbar seien. (Kaiser et al. in ZEIT Nr. 3 vom 13.1.1989, S. 4) Insgesamt handelte es sich bei den geschilderten Wahrnehmungen aber nur um unspektakuläre graduelle "Erleichterungen" oder "Verbesserungen". Um zu zeigen, wie gering diese Veränderungen ausfielen, sei noch ein Beispiel genannt: Die Psychoanalyse bekam wieder einen Platz in der wissenschaftlichen Diskussion, obwohl der Sozialismus sie nach der Theorie eigentlich überflüssig gemacht haben sollte. Kritische Redebeiträge wurden aber auch bei einem Freud-Symposion unterdrückt. (Schmidbauer in ZEIT Nr. 32 vom 4.8.1989, S. 39) Die Grundrichtung einer gegenüber der eigenen Bevölkerung reformfeindlichen Politik wurde auch in solchen Artikeln nicht wirklich in Frage gestellt.

Hinsichtlich des Verhaltens einer neuen Staats- und Parteispitze, die früher oder später eingesetzt werden würde, bestand die fast einhellige Meinung, daß diese relativ weitreichende Reformen einleiten würde. Als Beispiel sei ein weiteres mal Harry Maier genannt, der gravierende Änderungen im Wirtschaftssystem prognostizierte, die allein aufgrund des Drucks aus der Bevölkerung unumgänglich seien. (Maier in ZEIT Nr. 12 vom 17.3.1989, S. 44 f.) Auf erhebliche politische Reformen hoffte beispielsweise Sommer, wenn das alte Regime abgetreten würde. Voraussetzung sei, daß die Bundesrepublik nicht wieder alte Maximalforderungen aufstellen würde, welche Veränderungen in der DDR verhindern könnten. (Sommer in ZEIT Nr. 26 vom 23.6.1989, S. 3). Menge beschrieb, daß bereits Wirtschaftswissenschaftler vorschlugen, mit marktwirtschaftlichen Instrumenten die DDR-Währung konvertierbar zu machen. (Menge in ZEIT Nr. 33 vom 11.8.1989, S. 3) Winkler wies darauf hin, daß eine solche Entwicklung nicht zwangsläufig bedeuten müsse, daß die DDR ihr Selbstverständnis als sozialistischer Staat aufgeben müsse. Selbst die konsequentesten Reformer würden weiterhin vom Gesellschaftseigentum der Produktionsmittel in den Schlüsselsektoren ausgehen. (Winkler in ZEIT Nr. 33 vom 11.8.1989, S. 5) Im gleichen Maße, in dem Reformdruck wahrgenommen wurde, gingen die Autoren auch von einer Kurskorrektur der Nachfolger Honeckers und Mittags aus. Nawrocki zitierte einen DDR-Gesprächspartner mit den Worten: "Nur unausweichliche Sachzwänge werden eine Reform auslösen. Und dann werden auch die Personen dafür da sein". Der Autor selber führte weiter aus: "Aber zumindest ökonomisch sind die Sachzwänge trotz aller Versorgungsmängel und Systemfehler noch nicht drückend genug." Daß die gegebenenfalls an die Staatsspitze nachrückende zweite Garde tatsächlich Reformfreude an den Tag legen würde, hielt Nawrocki mit Hinweis auf die Wirkung einer langen Parteikarriere allerdings für unwahrscheinlich. (Nawrocki in ZEIT Nr. 35 vom 25.8.1989, S. 4) Die letzte Einschätzung stellte aber eher eine Minderheitenmeinung dar.

Hinsichtlich des Verhaltens des Politbüros ergab sich also insgesamt ebenfalls ein korrektes Bild. Die Staatsführung war zu keinen inneren Reformen bereit, agierte hilflos abwartend und schlug aufkommende Opposition im Keim nieder. Auch die dahinterstehenden rationalen Aspekte wurden erkannt: Die DDR konnte in Zeiten bröckelnder Feindbilder nur aufgrund der sozialistischen Ideologie positiv als Staat definiert werden. Insofern waren Reformen nur bis zu einem gewissen Punkt möglich, da zwei kapitalistische Staaten den Sinn einer Trennung in Frage gestellt hätten. Eine stärkere wirtschaftliche Kooperation, sowie eine schrittweise Demokratisierung schlossen diese Überlegungen jedoch nicht grundsätzlich aus. Deshalb kamen die meisten Autoren zu dem Schluß, daß die extreme Reformfeindlichkeit primär auf die Halsstarrigkeit und Realitätsferne der Führungsriege um Honecker zurückzuführen war.

3.2.2.3. Wahrnehmung der Stimmung in der Bevölkerung

Die vorherrschende Stimmung in der Bevölkerung wurde in aller Regel als resignativ beschrieben. Die Bürger wünschten sich nach Meinung fast aller Autoren Reformen wie in anderen Ostblockstaaten, über die sie durch das Westfernsehen informiert waren. Wo dies nicht explizit Erwähnung fand, wurde ein latenter Wunsch nach Veränderungen zumindest nicht dementiert. Insbesondere aufgrund der offiziellen Verlautbarungen nach dem Massaker in Peking und tatsächlicher Härte bei Verhaftungen erwarteten die Menschen jedoch keine Reformen von der amtierenden Staatsführung mehr. Ein Teil stellte deshalb einen Ausreiseantrag oder versuchte zu fliehen. Dies geschah entweder aus Angst, daß Gorbatschows Politik scheitern würde und die wenigen Freiheiten von der Staatsführung noch weiter beschnitten werden könnten, oder weil die betroffenen Menschen nicht länger auf Veränderungen in der DDR warten wollten. In den Artikeln wurde davon ausgegangen, daß eine Million oder mehr Bürger gewillt waren, die DDR zu verlassen. Der größere Teil der Bevölkerung zog es jedoch vor, in der DDR zu bleiben, um nicht Hab und Gut durch eine Übersiedlung zu verlieren. (Buhl in ZEIT Nr. 33 vom 11.8.1989, S. 1; Menge in ZEIT Nr. 33 vom 11.8.1989, S. 3)(22) Auch die in Kapitel 2 festgestellte Tatsache, daß die Staatspropaganda insbesondere Jungendliche nicht mehr erreichte, wurde immerhin von Marlies Menge in einem Artikel korrekt herausgestellt. (Menge in ZEIT Nr. 10 vom 3.3.1989, S. 4.)

Neben Resignation oder Flucht wurden in einigen Artikeln auch Proteste innerhalb der DDR aufgegriffen. So wies Marlies Menge am 20. Januar 1989 darauf hin, daß seit 1988 Oppositionelle die Gedenkveranstaltung zur Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zur Artikulation ihrer Forderungen zu nutzen versuchten. (Menge in ZEIT Nr. 4 vom 20.1.1989, S. 7) Am 16.6. schilderte sie die Zerschlagung eines Schweigemarsches, der aus Protest gegen die Wahlfälschungen bei den Kommunalwahlen abgehalten werden sollte. (Menge in ZEIT Nr. 25 vom 16.6.1989, S. 13.) Bender stellte fest, daß Demonstrationen der Partei bereits vor "Andersdenkenden" geschützt werden mußten. (Bender in ZEIT, Nr. 17 vom 7.7.1989, S. 3) Wie auch schon im Bereich der Wirtschaft, bewerteten einige Autoren die Situation positiver: Harald Bräutigam vermittelte in seinem bereits angesprochenen Artikel ein Bild, nach dem die Menschen mit dem Gesundheitssystem aus gutem Grund zufrieden waren. (Bräutigam in ZEIT Nr. 18 vom 28.4.1989, S. 80 f.) Nach Kennan waren die Bürger außerdem nicht ohne weiteres bereit, Anschauungen, Gewohnheiten oder Gesetze der DDR zu Gunsten von Neuerungen im westdeutschen Stil zu verlieren. (Kennan in ZEIT vom 14.4.1989, S. 6) Insofern wurde zumindest in einem Fall also auch ein Bild vermittelt, nach dem immaterielle Werte in der DDR von der Bevölkerung geschätzt wurden. Damit sind aber auch schon alle tendenziell positiven Darstellungen aufgezählt. Bender vertrat zwar ebenfalls die Meinung, daß der Reformdruck durch die Bevölkerung aktuell gering sei, nahm aber an, daß dieser durch das reformfeindliche Verhalten der Führung noch wachsen würde. (Bender in ZEIT Nr. 27 vom 7.7.1989, S. 3)

Zu erwähnen ist zuletzt die gelegentlich zum Ausdruck gebrachte Annahme, daß sich bei den Menschen in der DDR im allgemeinen ein weitaus stärkeres gesamtdeutsches Bewußtsein erhalten habe, als bei Bürgern der Bundesrepublik. Dies war beispielsweise in der in Aus- zügen abgedruckten Rede Erhard Epplers zur Feier des 17. Juni zu entnehmen. (Eppler in ZEIT Nr. 26 vom 23.6.1989, S. 12) Man ging offensichtlich davon aus, daß unter entsprechenden Rahmenbedingungen sich die Bürger der DDR in ihrer Mehrheit nicht gegen eine Vereinigung Deutschlands aussprechen würden.

Insgesamt läßt sich also festhalten, daß auch das Bild von der Stimmung in der Bevölkerung und den Vorgängen in der DDR weitgehend den Tatsachen entsprach, soweit diese überhaupt im Nachhinein noch zu ermitteln waren. Resignation, verstärktes Engagement für Reformen, sowie der Wunsch nach Ausreise als unterschiedliche Reaktion auf das Festhalten der SED-Spitze am alten Kurs, kamen in den Beiträgen zum Ausdruck. Nur in wenigen Artikeln gingen Autoren von einer anhaltenden Akzeptanz der Gegebenheiten in der DDR aus.

3.2.2.4. Prognosen über eine mögliche Grenzöffnung oder Wiedervereinigung Deutschlands

Hintergrund für Spekulationen über die mögliche Zukunft Deutschlands war in der Regel die Reformpolitik Gorbatschows. George F. Kennan stellte beispielsweise am 14. April fest, daß sich im Rahmen der neuen Freiheit gegenüber Moskau erhebliche Möglichkeiten für eine wechselseitige Beeinflussung von Bundesrepublik und DDR ergeben hätten. (Kennan in ZEIT Nr. 16 vom 14.4.1989, S. 6) William Pfaff prognostizierte bereits das vollständige Auseinanderfallen des Sowjetkommunismus. Trotz des Hinweises auf allgemeine nationalistische Entwicklungen, ließ er sich allerdings nicht über die Zukunft Deutschlands aus. (Pfaff in ZEIT Nr. 15 vom 7.4.1989, S. 47) Einige Autoren dachten dagegen eine weitergehende Entwicklung zumindest vorsichtig an. Kennan vertrat z.B. die Meinung, daß eine deutsch-deutsche Annäherung wahrscheinlich und der Fall der Mauer durch eine Europäisierung Berlins zumindest möglich sei, was aber nicht automatisch eine Vereinigung beider deutscher Staaten bedeuten würde. (Kennan in ZEIT Nr. 17 vom 21.4.1989, S. 9) Der Niederländer Willem Brugsma prognostizierte etwas diffus: "Die neunziger Jahre werden aufregend. Die Geschichte ist in Bewegung geraten." (Brugsma in ZEIT Nr. 19 vom 5.5.1989, S. 52) Selbst der ostdeutsche Regisseur Konrad Weiß schloß ein vereinigtes Deutschland in ferner Zukunft nicht aus. (Weiß in ZEIT Nr. 27 vom 30.6.1989, S. 7) Sommer wies darauf hin, daß selbst bei noch so weitreichenden Reformen lediglich ein Ausgleich des Wohlstands- und Freiheitsgefälles zwischen den beiden deutschen Staaten den Abbruch der Mauer auslösen könnte, weil nur dann kein "Ausbluten" der DDR zu erwarten sei. Dahinter stand die Annahme, daß Moskau der SED-Spitze freie Hand lassen würde, den Status Quo notfalls mit allen Mitteln zu erhalten. (Theo Sommer in ZEIT Nr. 25 vom 16.6.1989, S. 1) Aus heutiger Sicht interessant ist die damalige Ansicht Ahrends, daß keinesfalls die deutsche Bevölkerung die Mauer schleifen, sondern sie irgendwann einmal unspektakulär verschwinden würde. (Ahrends in ZEIT Nr. 33 vom 11.8.1989, S. 35) Er prognostizierte damit das genaue Gegenteil der späteren Ereignisse.

Die relativ raren Prognosen bezüglich der Zukunft Deutschlands waren im nachhinein ausnahmslos falsch, denn in keinem Artikel wurde eine kurzfristige Vereinigung der deutschen Staaten vorhergesehen. Zum einen war der Fokus offenbar zu sehr auf die globale politische Situation fixiert. Zum anderen wurde das Potential der SED, ihre Macht zu erhalten, offensichtlich überschätzt und das "revolutionäre Potential" in der Bevölkerung unterschätzt Auch ein Zusammenbruch der Wirtschaft schien die politische Existenz des Staates DDR nicht unmittelbar zu gefährden.

 

 


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